Es waren schon immer bewegte Zeiten.
Auf der Geburtstagskarte meiner lebenslustigen Tante steht: ‘Mit dem Alter ist es wie mit dem Wein, es muss ein guter Jahrgang sein.’ Meiner ist 63.
Im August 1963 hielt Dr. Martin Luther King seine berühmte Rede ‚I Have a Dream‘. Es war auch das Jahr, in dem JFK Berlin besuchte und erschossen wurde. George Harrison ermutigte Decca Records eine neue Band unter Vertrag zu nehmen, die er entdeckt hatte, die Rolling Stones. 1963. Die sowjetische Kosmonautin Valentina Tereschkowa startete als erste Frau in den Weltraum.
Everything was happening. I happened. Boomer Optimism happened. Let’s make this world a better place! Die Geschichte meines Lebens.
Wie fühle ich mich mit 60?
Jung. Voller Hoffnung. Voller Energie, wie eine Supernova. Hundert Millionen Sonnen! Definitiv nicht alt. Dadurch, dass ich jeden Tag unglaublich viel lerne und philosophiere, auch nie ‘alt’-werdend. Eine Rente, auf der ich mich ausruhen könnte, gibt es nach Jahrzehnten im Ausland nicht. Was solls? Entschleunigung würde mich umbringen. Das Alter auf Kreuzfahrtschiffen zu verbringen um Selfies vor Eisbären auf schmelzenden Schollen zu knipsen, das wäre meine persönliche Vorstellung von Hölle.
The best years are yet to come.
Was sind die Segnungen des Älterwerdens?
Ich hatte mich darüber neulich mit einer lieben Kollegin vom BDU und Professorin für Individualpsychologie unterhalten. Ich denke, wir können Muster intuitiv besser erkennen und darauf strukturierter reagieren als in jüngeren Jahren. Wir sprechen von einer hochkomplexen Mustererkennung. Dazu gehört, Menschen in ihren Biographien ganzheitlich sehen, annehmen und verstehen zu können, Menschenkenntnis zu entwickeln, kulturelle Muster klarer zu erkennen und gesellschaftliche Begründungszusammenhänge facettenreicher aufzuspüren, bei gleichzeitig wachsender Offenheit und Neugier. Je mehr wir lernen, desto offener sollten wir werden, ansonsten handelt es sich um einen Prozess der Selbstbestätigung, aber keinen genuinen Lernprozess. Genuines Lernen transformiert.
Randbemerkung: Ein mutiger transformatorischer Absatz, der das Tabu seiner Zeit durchbrach, war etwa Alfred Adlers ‘Menschenkenntnis’ von 1927. Ich empfehle als unglaublich weitsichtige Lektüre Kapitel 3 ‘Das Vorurteil von der Minderwertigkeit der Frau‘, https://www.textlog.de/adler-psychologie-vorurteil-minderwertigkeit-frau.html . Das war, wie gesagt, 1927. Ganz nebenbei, Adler als Kontrapunkt zu Freud.
Ich verstehe die Welt und Menschen auf vielen Ebenen gleichzeitig, bewusst, multidimensional, so ist mein Gehirn verdrahtet. Und ich werde freundlicher und milder, je älter ich werde. Dafür sinkt meine Toleranzschwelle für Bullshit.
Was waren neuliche, schönes Erlebnisse?
Drei Erlebnisse. (1) INKLUSION. Was mir wirklich, wirklich das Herz erwärmt hat, war die Erfahrung, dass ich mich mit Gruppen von ‚älteren‘ Menschen (wie ich, LOL) – wir reden von den Workshops für Schulleiter*innen, die ich mit MyGatekeeper in Celle, Soltau, Hildesheim und Osnabrück durchgeführt habe – genauso bedeutungsvoll und tief verbinden kann wie mit meinen Studierenden an der Uni. Ich konnte mich als Coach im herausfordernden Kapitel der organisationalen Kulturentwicklung bewähren, konnte zusammen mit tollen Co-Coaches den Teilnehmer*innen viel mitgeben. Zugleich hatten mich die sehr empathischen Schulleitungen dazu eingeladen, in ihre Runde zu kommen, und hatten mir viel Vertrauen und Wertschätzung entgegengebracht. Verdientes Vertrauen scheint der mächtigste Faktor, der organisationale Komplexität entwirren und neu ordnen kann.
(2) INTERNATIONALISIERUNG: Eine äußerst wohltuende Erfahrung war es neulich im Rahmen eines kleinen Design Jobs wieder international zu arbeiten. Die Interaktion mit einem Team aus Spanien, Frankreich, Rumänien sowie einem talentierten Designer aus Pakistan war wie die Erweckung meiner Superpower: Endlich konnte ich wieder auf der vertrauten Weltbühne agieren. Wie sehr hatte ich dieses Gefühl vermisst! Ich fühlte mich wie ein Delfin, der den Weg ins Meer wiedergefunden hat.
(3) HEIMSPIELE: Last but not least – unsere Live-Treffen bei NEXTGEN.LX sind magische Momente erstaunlicher Synergien. Ego spielt nie eine Rolle. Wir können uns beide zurücknehmen und intuitiv spüren, wo die nächsten Eureka-Momente aufleuchten. Der Fokus auf ‘Learning & Development’ in diesem Jahr hat die menschliche Seite stärker hervorgehoben: Es geht uns um die Wechselwirkung zwischen der lebenslangen Entwicklung von Menschen und den Organisationen, in denen sie arbeiten. Vielleicht gelingt es uns mit unserem prozessbasierten Modell, das Modell einer ‘Lernenden Organisation’ (Peter M. Senge) endlich zum Fliegen zu bringen. Ohne lernende Organisationen und Unternehmen werden wir die ökologische Transformation nicht hinbekommen. Die Welt besser zu hinterlassen, als wir sie vorgefunden haben, und sei es in unserem bescheidenen Fachbereich, darum geht es ja.

Wie gehe ich mit verletzenden Erfahrungen um?
Ich denke, dass ich mich von den sehr schlechten Erfahrungen mit der deutschen Bürokratie emanzipiert habe, insbesondere von den Betonköpfen der KMK, die es geschafft haben, mir tolle Zukunftschancen zu verbauen. Monatelange Depressionen nach Absage einer Promotionsmöglichkeit, auf die ich viele Jahre hingearbeitet hatte, und die Gleichgültigkeit meiner Vorgesetzten, die nie (!) jemals, in all den Jahren, mit mir gesprochen haben – all das kann ich von der Steuer absetzen, aber nicht vergessen.
Diese Gleichgültigkeit, das institutionalisierte Von-Oben-Herab ist typisch deutsch und das hatte ich weder in Singapur, noch in Shanghai oder Bangkok erlebt. Ich komme mit der Kultur nicht zurecht!
Mein Software Startup NEXTGEN.LX (Next-Generation Learning Experience) habe ich als einen alternativen Weg in die Zukunft entwickelt denn, wenn keiner dir hilft, hilf dir selbst! Wir sind persönlich für unsere Lebensentwürfe verantwortlich.
Psychologische Inklusions- und Exklusionserfahrungen
Im Ernst: Wenn gute 30 Jahre Lebensleistung nicht anerkannt werden, verstehe ich zumindest teilweise die ostdeutsche Frustration, den nie endenden Groll. Die arrogante westdeutsche Bürokratie hat sich als die Norm gesetzt. Das bedeutet, deine bisherige Lebensleitung wird auf Null gesetzt. Du fühlst dich Migrantin im eigenen Land. Dir wird erzählt, dass dein bisheriges Leben Müll war, zumindest nicht weiter erwähnenswert, und dass du ausschließlich ‚on their terms‘ Anerkennung verdienst.
Exakt diese Erfahrung teile ich mit vielen Ostdeutschen, wenn auch aus einer völlig anderen Richtung kommend. Darüber hinaus ging es für Bürger*innen der ehemaligen DDR um das Verscherbeln der Lebensleistung durch die Treuhand (das “Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens”) auf dem westdeutschen Schnäppchenmarkt.
Das ist eine bittere, existenzielle Exklusionserfahrung. Die Menschen erleben das als Entmündigung und Negierung ihrer Lebensleistung, als maximale Demütigung. Da ich anders sozialisiert bin als manche Leute in Thüringen und Sachsen-Anhalt (an dieser Stelle ein Hoch auf die Mehrheit der netten Ostdeutschen, die gibt es auch! ), gehe ich nicht den Wölfen im Schafspelz auf den Leim. Lieber besuche ich einen Tempel und zünde ein Räucherstäbchen für Ganesha an. Eine Zeile von George Harrison aus dem grandiosen ‚Within you Without You’ kommt mir spontan in den Sinn: ‘With their love, they could change the world. (…) If they only knew….’ Wie schön. Leider gibt es zu viele Biografien jenseits von Liebe und Vernunft. Neben den Verführten gibt es, das dürfen wir nicht vergessen, echte hardcore Neonazis.
Was können wir tun, damit verschiedenste Menschen sich verbinden können?
Pyschologisch sichere und inklusive Teams zu entwickeln ist für mich derzeit das große Zukunftsthema. Wissenschaftlich untermauert wird das Ganze durch Timothy R. Clark und sein Vier-Stufen-Modell der psychologischen Sicherheit. Das Modell besagt, dass es ohne Inklusionssicherheit, d.h. Menschen als Menschen sehen und in eine Gemeinschaft einladen zu können, keine Lern- und Beitragssicherheit geben kann. Eine Workshopreihe für 2024, die ich mit einer hochkarätigen Kollegin vom BDU plane, wird sich mit der Entwicklung inklusiver und hochinnovativer Communities beschäftigen.
Das bessere Selbst findet zur Sprache
Wir dürfen am Ende den Glauben an uns selbst nicht verlieren. Wir sind keine Opfer der Geschichte, solange wir unsere eigene Geschichte schreiben.
Mein besseres Selbst sagt mir: Habe Mut, dein Leben in die Hand zu nehmen. Oder als Abwandlung von Kant: Summa tibi vitam capessendi animi esto. Lasse die Betonköpfe und ihre bröckelnden Systeme, die sie verteidigen, links liegen. Verausgabe dich nicht damit, die Dummheit anderer zu korrigieren, denn wir sind keine Göttinnen und Götter und unsere menschliche Energie ist begrenzt. Einfach machen, nicht jammern.
Schaffe stattdessen Neues, das auf echter Lebensfreude beruht und auf das du am Ende stolz sein kannst. Warte dabei auf niemanden, nicht einmal dich selbst. Die schönsten Momente sind die, in denen wir über uns hinauswachsen, besonders im Team.
Mein Dank und unser Tao
Eben das gehört zum Reifungsprozess: Mit der Vielfalt von Menschen, der Widersprüchlichkeit und den Hindernissen der Welt respektvoll und freundlich umgehen zu können. Differenzieren zu können. Pragmatisch und klug sein zu können und sich selbstkritisch, streng mit sich selbst, korrigieren zu können.
Ein tiefer Dank geht an alle meine Freundinnen und Freunde, Weggefährt*innen und Coaches, meine Familie und ganz besonders an die beste Schwester der Welt. Ohne Euch wäre ich nie dorthin gekommen, wo ich mit 60 Jahren angekommen bin: Auf einem wunderbar offenen, fluiden, etwas chaotischen mentalen Feld zusammen mit Euch, auf dem viele spannende Zukünfte nur darauf warten, sanft geküsst, erweckt und entwickelt zu werden.
Es wird Zeit für neue Erfolgserlebnisse.
Photo: Meine Tante teilt mit mir ihre Edelklamotten. Wir haben die gleiche Größe und das ist zudem super nachhaltig. Heute ist es Escada, brought to you by the absolutely fabulous Maren Meißner.
