Mit einem LMS beginnt die Organisation digitalen Lernens
Als technologieaffine Pädagogin hatte ich mich von Anfang an in Learning-Management-Systeme (LMS) verliebt. LMS organisierten meine Arbeit stets besser als analoge Medium, sie erleichterten meinen Studierenden den Online-Zugang zu Lehr- und Lernmaterialien und, vor allem in den letzten Jahren, unterstützen solche Systeme die interaktive Umsetzung von Lernaktivitäten. Ich erinnere mich als wir, vor mehr als einem Jahrzehnt, die ersten Moodle-Versionen auf unserem lokalen Server an unserem internationalen College in Thailand installierten. Nur wenig später experimentierte ich mit dem Google Classroom (außerhalb Deutschlands, klar, DSGVO) und arbeitete während meines Masters an der Universität Liverpool mit dem LMS Blackboard (modifiziert durch Laureate Lens). Die meisten Online-Kurse, die ich damals an der Universität Oxford belegte wurden zwar etwas einfach, aber sehr effektiv, über Moodle angeboten.
Gegenwärtig verwende ich das LMS Canvas für die Medienfaktur der Universität Oldenburg und genieße den Luxus, eines der fortschrittlichsten und benutzerfreundlichsten Systeme der Welt einzusetzen. Canvas stellt für mich den Höhepunkt der Entwicklung von LMS dar. Vom mobilen Zugriff über Lernanalysen (Learning Analytics) bis hin zu großartigen Tools wie dem ‘Speedgrader‘, setzt Canvas den digitalen Goldstandard. Wir hatten zudem Canvas mit Pronto, einer Team-Kommunikationsplattform für synchrone Kommunikation, aufgerüstet. Wer noch nicht mit der digitalen Bildung begonnen hat, sollte sich definitiv ein geeignetes LMS besorgen. Und ja, man braucht natürlich als Grundlage ein WLAN, was momentan leider nur etwa 25% aller bundesdeutschen Schulen besitzen.
Und doch ist nicht alles Gold, was glänzt. Wenn ich kritisch auf meine pädagogischen Erfahrungen während der Corona-Krise zurückschaue, halte ich die Struktur von Learning-Management-Systemen für immer weniger geeignet die Zukunft der Hochschulbildung zu bestimmen. In letzter Zeit habe ich sogar das Gefühl, dass zentralisierte LMS fortgeschrittene Lernmethoden eher einschränken als fördern. Im Folgenden erörtere ich diesbezüglich einige Gedanken mit Schwerpunkt auf die Hochschulbildung. Es geht kurz gesagt darum, wie wir uns von festgelegten Software-Schablonen emanzipieren.
Bei genauerem Hinsehen dienen alle LMS den traditionellen Formen des Bildungsbetriebs
Alle LMS, unabhängig vom Anbieter, unterstützen logischerweise die Struktur traditioneller Lehrpläne und Module. Der kleinste gemeinsame Nenner von Schulen, Fachhochschulen und Universitäten der ganzen Welt sind traditionelle Kursstrukturen. Diese erfordern typischerweise die Abgabe von Aufgaben, welche von Dozent*innen benotet werden. Wir können alle Vorzüge moderner LMS, wie z.B. e-Portfolios, persönliche Lernwege oder formative Beurteilungsmöglichkeiten in die Gleichung einfließen lassen – aber haben es letztendlich immer mit einer vorstrukturierten, überwiegend von Lehrern bzw. Dozenten erzeugten Lernumgebung zu tun, die auf traditionellen (oft wöchentlich strukturierten) Themen und Inhalten basiert. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange wir keine pädagogischen Modelle favorisieren, die eine größere Autonomie der Lernenden ermöglichen, insbesondere bei problembasierter Teamarbeit.

Welches sind die zentralen Faktoren aktiven Lernens?
Wir könnten argumentieren, dass jedes LMS, zumindest theoretisch, jede Art von Pädagogik unterstützen kann – von reiner Wissensvermittlung bis hin zur Gruppen- und Projektarbeit. Die Frage scheint nur, ob die verantwortlichen Programmgestalter*innen smart genug sind um innovative Beurteilungs- und Lernmethoden mit einzubinden. Das ABC-Workshop-Format , speziell in Kombination mit dem Constructive Alignment, ist ein gutes Beispiel progressiver pädagogischer Strategieentwicklung.
De facto sind praktisch alle kommerziellen und Open-Source-LMS um Kurs- und Modulstrukturen herum aufgebaut. Erst an zweiter Stelle steht die Pädagogik (im Deutschen ‘das Primat der Pädagogik‘). LMS sind nicht primär um (a) das soziale Umfeld der Lernenden (unterstützt durch ihre akademischen und technologischen Ressourcen), (b) die Herausforderung oder das Problem, um das es geht, oder (c) die Struktur mehrstufiger Lernprozesse herum aufgebaut. All diese entscheidenden Faktoren werden als sekundäre Phänomene behandelt, die a posteriori innerhalb eines LMS adressiert werden.
Aber erfordert nicht jedes Lernen ein übergreifendes zentralisiertes Lern-Managementsystem? Wenn wir die Annahme einer standardisierten Beurteilung akademischer Leistungen teilen, ist dies vielleicht der Fall. In der universitären Bildung erweitert sich jedoch unserer Erwartungshorizont höherer psychologischer Lernprozesse. Zur Illustration ein Beispiel: Nach der problembasierten (PBL)-Philosophie wird davon ausgegangen, dass der Motor des Lernens authentische Probleme und Herausforderungen sind, während das Lernen von der aktiven Beteiligung der Lernenden als reflektierende Praktiker (‘reflective practitioners’) abhängt. Warum sind digitale Lernumgebungen dann nicht um diese Lernprozess-strukturierenden Faktoren herum aufgebaut?
‘Social Making’: Wo sie sich von zentralisierten LMS unterscheidet
Ein weiterer zentraler Schritt von PBL ist das selbstgesteuerte Lernen. Wir lassen die Schülerinnen und Schüler nach wie vor (meist individuell) Online-Bibliotheken durchstreifen um nützliche Informationen zu finden. Wenn wir Glück haben wissen Studierende, wie man Search Strings entwickelt. Was die Schülerinnen und Schüler bei der Lösung komplexer Probleme brauchen könnten sind personalisierte Dashboards, die ihnen die Recherche erleichtern.

Forschung aus verschiedensten Quellen, nicht nur aus Bibliotheken, muss organisiert, kritisch verglichen, kommentiert und mit anderen geteilt werden. Informationen müssen nicht nur gefunden, sondern auch automatisch von ausgewählten Internetquellen als Information-Feeds umgeleitet werden können. Wir müssen mit dem Internet aktiv arbeiten, bidirektional, nicht nur indem wir ad hoc Suchmaschinen bemühen. Programmierbare KI-Mustererkennungsmodule könnten Lernende dabei unterstützen zusätzliche relevante Quellen zu finden. Solche personalisierten Lernumgebungen wären sehr anspruchsvolle Räume. Momentan gibt es noch keine holistischen Softwarelösungen für das Problem tiefer wie weiter Recherche sowie die Entwicklung komplexer Recherche-Strategien.
Zukünftige Lernumgebungen würden bestehender Team-management und – Kommunikationssoftware ähneln. Ein Unterschied bestünde jedoch darin, dass die Lösungen in ein akademisches “Foyer” integriert würden, das von verantwortlichen Dozent*innen moderiert wird – einen gemeinsamen Lernraum, in dem sich selbstorganisierende Teams treffen, sich vernetzen und Feedback austauschen.
Ohne alle anderen Stufen der möglichen Digitalisierung des PBL-Prozesses weiter zu erörtern wird offensichtlich, dass Lernplattformen der Zukunft wenig mit den LMS, wie wir sie heute kennen, gemeinsam haben. Der von meinem Kollegen Michael Viertel und mir geprägte Begriff des “Social Making” bezieht sich auf die Idee, dass Lernende befähigt werden die sozialen Bedingungen für ihr Lernen autonom und adaptiv zu bestimmen. Dazu gehören Normen und Werte. Dazu gehören nicht nur Vorkenntnisse, sondern ebenso das kritische Bewusstsein persönlicher Motivationsfaktoren, die Struktur gemeinsamer Ressourcen sowie das Zurverfügungstellen einer Lernumgebung, die für alle zugänglich ist.
Schlussfolgerung
Da unsere Arbeit im Hochschulbereich zunehmend sowohl auf Projekt- als auch auf Teamarbeit basiert stoßen traditionelle LMS, die eher auf die Sekundar- und Grundschulbildung ausgerichtet sind, bei dem Thema kooperativer Problemlösungsprozesse an die Grenzen ihres Designs.
Was wir brauchen ist eine neue Generation digital-unterstützter Lernumgebungen, die personalisiertes Lernen ebenso ermöglichen wie kollaboratives Lernen. Im Gegensatz zu kommerzieller Team Kollaborations-Software müssen neue Lösungen in den akademischen Kontext in situ eingebettet sein.
LMS sind eine großartige Lösung für die Grund- und Sekundarschulbildung. Wenn es jedoch um die Tertiär- und Hochschulbildung geht, ist es angesichts einer zunehmend komplexeren digitalen Welt, die nur gemeinsam bewältigt werden kann, an der Zeit eine neue Generation von digitalen Lernumgebungen zu entwickeln. Was wir im Grunde wünschen ist, dass wir nicht nur oberflächliches Wissen und Basiskompetenzen fördern, sondern ebenfalls die soziale Haltung junger Menschen entwickeln, ihre Soft-Skills und ihre Ethik – also all jene menschlichen Potenziale, die erforderlich sind um das 21. Jahrhundert zu meistern.
Sir Ken Robinson, der leider letzten Monat verstorben ist, würde mich an dieser Stelle vermutlich korrigieren und den Aufruf zu mehr Kreativität auf alle Schulen und Altersstufen ausdehnen. Für ihn war Bildung kein mechanischer, sondern ein organischer Prozess
Bildung lässt sich nicht durch Algorithmen produzieren. Das Leben ist mehr als eine Abfolge berechenbarer Schritte. Die freie Entfaltung unterschiedlichster Persönlichkeiten, kreative und konstruktive Ideen oder inspirierende Lerngemeinschaften gedeihen nicht in standardisierten Lernumgebungen, Prüfungen und Tests. Letztere töten Kreativität und die Vorstellungskraft. In vielen, wenn auch nicht in allen Fällen, duplizieren LMS leider nur analoge Klassenzimmer. ‘Kompetenzbasierte’ Unterrichtspläne sind nicht selten eine nettere und verkleidete Version standardisierter akademischer Tests. Am Ende sind diese noch immer lehrerzentriert (quasi ‘fake’-lernerzentriert).
Ken Robinson formulierte dies sehr schön aus als er schrieb: ‘Human communities depend upon a diversity of talent, not a singular conception of ability. And at the heart of the challenge is to reconstitute our sense of ability and intelligence.‘