Manche Ausdrücke werden vorschnell in den Mund genommen. In dem Moment, in dem mehr als zwei Personen über die Anwendung von Software beraten, sprechen wir von einer ‚community of practice‘. Die Verwendung einer Lernplattform oder Laptops im Unterricht gilt in Deutschland bereits als ernstzunehmende ‚Digitalisierung‘. In einer Nation, in der nur 25 % aller Schulen über ein WLAN verfügen und selbst im Musterländle Baden-Württemberg nur 0,6 % aller Mittel des Digitalpaktes abgerufen wurden, scheint selbst der unscheinbarste Hauch von Technologie den bundesdeutschen Standard zum digitalen Fortschritt im Bildungswesen zu definieren.
Das gilt gleichfalls für politische Vorgaben: die Strategie der Kultusministerkonferenz (KMK) ‚Bildung in der digitalen Welt‘ etwa, die sich in Allgemeinplätzen zu digitalen Kompetenzen erschöpft, ist eine schlechte Kopie des europäischen Rahmenmodells DigCompEdu (The European Framework for the Digital Competence of Educators): Es gibt weder Hinweise zur pädagogischen Umsetzung der Kompetenz-Wunschlisten, noch ein Konzept wie digitale Kompetenzen zusammenhängend beurteilt werden können. Deontologisch und mit erhobenem Zeigefinger wird verordnet, wozu Schülerinnen und Schüler am Ende der regulären Schulpflichtzeit fähig sein sollen. Die Standards sind in sechs dekontextualisierten Kompetenzgrüppchen vage formuliert und damit ist der Job getan.
Ein Bezug zu Bildungsaufträgen fehlt. Schulweite Strategien, die technologische Erfordernisse mit pädagogischer Planung logisch verbinden, werden in der Strategie der KMK nicht einmal thematisiert. Dieser ‚schwarze Peter‘ (eben wie digitale Kompetenzen praktisch umgesetzt werden sollen) wurde den Ländern und Schulen zugeschoben. Die Politik des kleinsten gemeinsamen föderalen Nenners, kombiniert mit den bürokratischen Hürden des Digitalpaktes und einer Kultur öffentlichen Lamentierens auf hohem Niveau, scheint in Deutschland jede Fortschrittsknospe im Keim zu ersticken. Man sucht verzweifelt nach einem Musterplan, den es nicht gibt. Soweit zum IST-Zustand.
Schaut man sich Länder an, die im letzten Jahrzehnt Digitalisierung im Bildungswesen erfolgreich vorangetrieben haben, so fällt auf, dass die Kombination von top-down ebenso wie bottom-up Prozessen zur Gelingensbedingung gehören: Schul-und Universitätsleitungen müssen digitale Konzepte ermutigen und ermöglichen – ebenso wie engagierte Bildungsgestalter*innen Freiräume benötigen um traditionelle Unterrichtsmethoden zu transformieren.
Singapur entwickelte beispielsweise einen drei-Stufenplan, über Jahrzehnte hinweg, von der praktischen Anwendung digitaler Medien (wie benutze ich das?), über den Einsatz im Unterricht (wie verwende ich digitale Medien im sozialen Kontext?) bis hin zur pädagogischen Strategieentwicklung (wie können Schüler*innen und Studierende gewinnbringend mit digitalen Medien lernen?). In der Silicon Bay Area wurden, von Grund auf, neue Schulen errichtet, die bereits in der Sekundarstufe den sozial eingebetteten Gebrauch digitaler Medien praktizieren. Erstaunlicherweise profitieren davon vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Schichten, wie etwa Hispanics. Skandinavische Länder hatten schon vor Jahrzehnten digitale Infrastrukturen geschaffen. In Dänemark gibt es zum Beispiel das Abitur ausschließlich, und zur Vereinfachung aller, online. Studierende aus den Niederlanden staunten letztes Semester nicht schlecht, dass es an unserer Universität immer noch Tafeln gibt. Solche Relikte findet man in den Niederlanden nur noch in vereinzelten Dorfschulen. Estland fing 1991 bei Null an. Heute ist Estland in der digitalen Bildungs führend in Europa. Kleinere Länder reagieren offensichtlich flinker auf globale Herausforderungen.
Erfolgreiches Social Change Management verlangt eine verantwortungsvolle Unterstützung aller sozialen Akteure. Dies involviert die Finanzierung technologischer Ausstattung und Infrastruktur, die Unterstützung von Fortbildungsprogrammen sowie zusätzliche Zeit und Anreize für Lehrkräfte um sich gemeinsam in neue Technologien einzuarbeiten (‘Einfuchsen‘ ist ein schöner deutscher Begriff). Erfolgreiches Bottom-up Management bedeutet anderseits, dass Beraterinnen, Beratern und ‚early adopters‘, also Lehrkräften die sich, mutig voranschreitend, in die Terra Incognita digitaler Bildung begeben, zeitliche und finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden. Sozialer Wandel kann nur dann zielführend erfolgen, wenn es Menschen gibt, die progressive Initiativen aktiv vorantreiben und dieser Avantgarde entsprechende Freiräume eingerichtet werden. Keine Bewegungsräume, keine Bewegung, kein Wandel.
Für mich ist es ein großer Fortschritt, wenn im Wintersemester berufstätige Lehrkräfte (mit der Erfahrung realer Probleme und Herausforderungen) mit Lehramt Studierenden (mit frischen pädagogischen Ideen und technologischer Affinität) eine Lerngemeinschaft bilden können. So zumindest versucht es der ambitionierte Plan der Medienfaktur. Dahinter steckt die Hypothese, dass wir in einer diversifizierten Lerngemeinschaft mehr und besser lernen als allein oder in einer isolierten bzw. eher homogenen Gruppe.

Wir lernen, so unsere Prämisse, am schlechtesten in homogenen Gruppen anhand rein theoretischer Überlegungen. Wir lernen am besten in heterogenen Gruppen anhand der Lösung authentischer Probleme und der Bearbeitung relevanter Fallbeispiele. Die Logik ist einleuchtend: In einem ausbalancierten Informations-Equilibrium gerät jeder Informationsaustausch ins Stocken. Dort, wo schon alles bekannt ist, gibt es keine Neugier und keinen Bedarf an Entdeckungen. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Essenzieller digitaler Fortschritt besteht daher in der Realisierung vielfältig-heterogener, gut vernetzter, offener und damit starker Lerngemeinschaften. Gegenseitige Achtung, Freude an relevanten Themen, Teamfähigkeit und die Unterstützung durch eine flüssige digitale Lernumgebung sind notwendige Grundvoraussetzungen. Gute Teilnehmer sind gute Teilgeber.
Ergo: Wir müssen in Gemeinschaften investieren.
Entscheidend für die Qualität digitaler Professionalisierung sind zugrundeliegende Ideen, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Bezug auf ihre Kontexte kritisch reflektieren, weiterentwickeln und in die Alltagspraxis umsetzen. Die beste Lerngemeinschaft bleibt leblos und ohne motivierenden Funken, wenn sich Diskussionen um Allgemeinplätze, bereits bekannte Ideen oder einen etablierten Konsens bzw. Status Quo drehen. Erst die Vielfalt von Perspektiven, von neuen Ideen, kombiniert mit kreativer Zuversicht bringt Leben in eine Gemeinschaft. Diesbezüglich begab ich mich die letzten Jahre auf die Suche nach innovativen Konzepten auf internationalem Terrain. Zu den größten Einflüssen zählen problembasiertes Lernen (PBL), der ABC Workshop zur Entwicklung von Blendend Learning Programmen, das Constructive Alignment sowie Design Thinking. Die hohe Kunst ist es, solche Konzepte und Bildungsphilosophien im Platzhalter von Lernaktivitäten, Unterrichtseinheiten und Seminaren in situ sinnvoll zu einem Ganzen integrieren zu können. Dies geschieht derzeit in unserem Professionalisierungsmodul PB-380.
Ergo: Wir müssen in Ideen und Konzepte investieren.
Ganz entscheidend ist zuletzt, dass wir als engagierte Persönlichkeiten nicht alleingelassen werden. Die schönste Lerngemeinschaft und die besten Ideen nützen wenig, wenn wir uns nicht persönlich einbringen und partizipieren können, wenn wir keine Wertschätzung erfahren. Unsere Persönlichkeitsentwicklung und autobiografische Bedeutungsfindung muss in einer Lerngemeinschaft transzendiert werden können. Um dies zu gewährleisten, stelle ich in unseren Seminaren entsprechende Begegnungsräume zur Verfügung, beispielsweise ein digitales Café, aber auch die Möglichkeit anonym Fragen zu stellen oder in Breakout-Rooms kleinere Gruppen zu organisieren. Kommunikationskompetenzen stehen logischerweise im Mittelpunkt. Auf professioneller Ebene hatte ich mich diesbezüglich als Online-Tutorin an der Universität Oxford weitergebildet. Es geht um die Praxis, ähnlich wie im problembasierten Lernen, Gruppen von Studierenden in einem konkreten Projekt erfolgreich zu coachen. Motive des Mikrosystems müssen mit Motiven des Meso- und Makrosystems verbunden werden. Wie sollten wir uns sonst zu demokratischen Akteuren in einer freien pluralistischen Gesellschaft entwickeln?
Ergo: Wir müssen wertschätzend in die Entwicklung von Menschen investieren.

Eine weit verbreitete Illusion ist es, dass alles, was wir zur professionellen Entwicklung brauchen, aus dem Internet recherchieren und entsprechend internalisieren können. Auch wenn ich persönlich die Idee von Kompetenzen als Dispositionen zur Selbstorganisation teile, so erscheint mir dieser Ansatz doch sehr eingeschränkt, da er sich typischerweise auf individuelle Kompetenzen bezieht. Die Entwicklung von Softskills erfordert nicht nur hohe metakognitive, kognitive und empathische Fähigkeiten, sondern Jahre des Trainings in einem institutionalisierten sozialen Kontext. Demgegenüber wird, vor allem in der IT-Branche, berufliche Erfahrung nicht selten auf breiter Ebene abgewertet. Was ist schon Erfahrung, die auf old skills beruht? Unmittelbar verwertbare Fertigkeiten, die in wenigen Hashtags zusammengeführt werden können (im Bildungsbereich sind dies ECTS-Punkte als Währung), ersetzen organisch-gewachsene Kompetenzen zum Umgang mit Menschen.
Process-Skills (Kompetenzen zur Planung, Strukturierung und Durchführung von Lernprozessen) und Soft-Skills sind keine old skills, also veraltete Bildungsmethoden – etwa zur Durchführung von Frontalunterricht oder zur Erstellung klassischer Prüfungsaufgaben. Process- und Soft-Skills wurden in der Vergangenheit leider sehr wenig beachtet und thematisiert. Die Fähigkeiten, die heute im Wall Street Journal von Arbeitgebern und in der IT-Branche gepriesen werden, spielen bis heute formal in Schulen und Universitäten eine untergeordnete Rolle, wenn überhaupt. Eine Kompetenz wird bis heute in ihnen nicht erkannt (siehe die eingangs erwähnten KMK Standards). Der Begriff der Soft-Skills kam Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre aus dem amerikanischen Militär und bezeichnete, grob gesagt, alle Fähigkeiten, die sich nicht auf die Bedienung von Maschinen beziehen.

Eine Schwäche der analogen Kultur war es, menschliche Potenziale nicht stärker herauszustellen und zu fördern, auch wenn dies in der konstruktivistischen Pädagogik geschah. Verglichen mit der überwiegenden Mehrheit aller Schulen waren die Konstruktivisten leider nur eine Randerscheinung. Der Mainstream der analogen Kultur war befeuert von der Illusion, standardisiert und statistisch-vermessend die Welt beurteilen, planen und kontrollieren zu können. Der menschliche Logos sollte die Welt, die Natur wie die Gesellschaft kybernetisch steuern. Die vor allem in Deutschland populäre Pseudowissenschaft eines John Hattie, dem David Hasselhoff deutscher Bildungsplaner, steht stellvertretend für das Missverständnis, menschliche Lernprozesse kulturübergreifend in eine statistische Zwangsjacke stecken zu können. Ich empfehle diesbezüglich und als guten Einstieg die Kritik an Hattie von Prof. Rolf Schulmeister und Prof. Jörn Lovischach. Die Philosophie standardisierter, berechenbarer Bildungskontexte wird derzeit ersetzt durch die Flexibilität und Vielfalt stetig neu-generierter, doch zusammenhängender Patchwork-Muster. Das imaginäre ‘one-size-fits-all‘ Modell konventioneller Pädagogik wurde durch das Paradigma personalisierten und adaptiven Lernens abgelöst.
Pattern Recognition: In der von Felix Stalder postulierten ‘Kultur der Digitalität’ verschmelzen eine inhaltliche wie Lernprozess-orientierte Standardisierung: die inhaltliche Realisierung digitaler Artefakte anhand der Entwicklung innovativer Konzepte wird von communities of practice kritisch rezipiert und in ihrer sozialen wie persönliche Relevanz bewertet (externe Validität). Gleichzeitig moderiert die Prozess-Struktur der Lernprozesse die Kontextrelevanz von Outcomes, etwa durch eine best practice Methodologie (interne Konsistenz). Diese zwei Feedbackschleifen sind in der Kultur der Digitalität, als Garanten objektivierbarer Reliabilität, eng miteinander verwoben: diskursive Bedingungen und Settings, Prozess, Outcomes und sozio-kulturelle Konsequenzen lassen sich nicht mehr unabhängig voneinander denken. Sie bilden Ketten der Kulturbildung, in der sich qualitative, quantitative und algorithmische Ansätze symbiotisch ergänzen und miteinander konkurrieren.
Es ist daher nicht mehr möglich ohne Brüche im Verständnishorizont sozialer Akteure dekontextualisierte inhaltliche Wissensaneignung (ebenso wie lebensweltlich entfremdete Prozess-Aneignungspraktiken) sinn- und bedeutungsstiftend top-down zu vermitteln. Wo dies dennoch geschieht, wird die Legitimität von Bildungssystemen gerechtfertigt hinterfragt, nicht nur in Bezug auf die Anwendung und den Nutzen inhaltlichen Wissens, sondern in Bezug auf die Identitätsstiftung vernetzter Gemeinschaften, ganz zu schweigen von den agilen, biografieorientierten Kompetenzbedürfnissen ihrer Teilnehmer*innen.
Es bedurfte erst der Kultur der Digitalität, der potenziellen Bedrohung durch Algorithmen und künstliche Intelligenz (verwiesen sei in diesem Zusammenhang auf das schöne streitbare Essay ‘Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens‘ von Richard David Precht, hier ein Interview mit Precht im DLF) um den Wert und die Qualität menschlicher Interaktion und Beziehung wiederzuentdecken. Wenn wir diese Chance der Digitalisierung erkennen und nutzen, haben wir den ersten mutigen Schritt in eine sozialere und offenere Zukunft getan. Wir müssen Technologie zur Beflügelung des menschlichen Geistes verwenden, nicht zu dessen Versklavung.
Einleitendes Bild: Dankend von Headway.io (Unsplash)