Dieser Eintrag ist meinen Studierenden gewidmet
Meine Studierenden arbeiten momentan hart daran, kreative medienbasierte Unterrichtseinheiten zu gestalten. Dabei verwenden wir fortschrittliche wissenschaftlichen Ansätze wie etwa konstruktivistische Lerntheorien, das Constructive Alignment oder den ABC Workshop.
Doch trotz aller Werkzeuge und Betreuung merke ich, dass sich praktische Erfahrung im beruflichen Kontext durch nichts ersetzen lässt. Selten gibt es beispielsweise eine realistische Einschätzung der Zeit und der Ressourcen, die bestimmte Phasen einer Unterrichtseinheit erfordern. Nicht selten werden eigene Lernerfahrungen repliziert, d. h. Unterricht wird sehr mechanistisch und behavioristisch erstellt. Unterricht besteht in diesen Fällen aus sogenannten Aufgabenblättern, dass Einpferchen in Breakout-Rooms in kleinen 10 Minuten Schichten oder die Benotung von ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Antworten.
Gerechterweise muss ich hinzufügen, dass es ebenso sehr schöne Entwürfe gibt. Ich möchte nichts vereinfachen. Es fällt mir jedoch auf, wie einige Studierende unbewusst ihre autobiografisch-erfahrene Lernkultur replizieren. Und – ich war am Anfang meiner Laufbahn nicht anders.
Als ich vor vielen Jahren als junge Dozentin in Singapur angefangen hatte, folgte ich genau dem gleichen Schemata. Meine ersten Unterrichtseinheiten waren klassischer Frontalunterricht, denn ich kannte ja nichts anderes und hatte nie etwas anderes erfahren. Als später Kolleginnen mir erklärten, dass problembasiertes Lernen (PBL) für unsere Fachhochschule eine tolle neue Lernmethode sei, die man erfahren müsse um sie zu verstehen, beharrte ich stursinnig und skeptisch in meinem Modus. Ich bat sie mir ein Buch zu empfehlen um mir in Ruhe eine Meinung bilden zu können. Ihr Vorschlag ‚Du musst es erfahren‘ klang mir zu sehr nach Kult.
Die bisher beschriebene Episode passt sehr gut zu dem Gedankenexperiment Mary’s Room von Frank Cameron Jackson (1982). Wer dieses Gedankenexperiment noch nicht kennt, dem habe ich es im folgenden Abschnitt zitiert. Es geht um die hypothetische Wissenschaflerin Mary, die in einer farblosen Welt aufgewachsen war, alles über Farben weiss aber diese noch nie erfahren hatte. Hier ist die Übersetzung aus dem Original:
Mary ist eine brillante Wissenschaftlerin, die, aus welchen Gründen auch immer, gezwungen ist, die Welt von einem schwarzweißen Raum aus mithilfe eines schwarzweißen Fernsehmonitors zu untersuchen. Sie spezialisiert sich auf die Neurophysiologie des Sehens und eignet sich, wie wir annehmen wollen, alle physikalischen Informationen an, die verfügbar sind, über das, was passiert, wenn wir reife Tomaten oder den Himmel sehen und Begriffe wie ‚rot‘ ‚blau‘ usw. benutzen. Sie entdeckt zum Beispiel, welche vom Himmel ausgehenden Wellenlängen-Kombinationen genau die Netzhaut stimulieren und wie genau dies mithilfe des zentralen Nervensystems ein Zusammenziehen der Stimmbänder und Ausstoßen von Luft aus der Lunge hervorruft, das zur Äußerung des Satzes ‚Der Himmel ist blau‘ führt. […] Was wird passieren, wenn Mary aus ihrem schwarzweißen Raum gelassen wird oder wenn man ihr einen Farbfernseher gibt? Wird sie etwas lernen oder nicht?
Um es kurz zu fassen… ich war wie Mary. Ich kannte in der Tat nur die schwarzweißgraue Lehr- und Lernkultur, in der ich selbst aufgewachsen war. Ich war exzellent in Lerntheorien bewandert, speziell in philosophischer Hinsicht, und hatte doch nie Farben gesehen.
Eines Tages arbeiteten meine Studierenden des Temasek Polytechnic an verschiedensten Designproblemen in den Tutorengruppen, die für PBL typisch sind. Zu dieser Zeit lehrte ich bereits mit konstruktivistischen Methoden und hatte den Frontalunterricht glücklicherweise hinter mir gelassen. Meine Studierenden waren so in ihre Gespräche vertieft, sodass die Zeit davon lief. Eine andere Klasse hatte den Raum gebucht und ich musste sie leider vorzeitig hinauswerfen. Der Tag verging.
Am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Arbeit, schlug die folgende Frage aus heiterem Himmel und wie ein Blitz in mich ein: Wann war es das letzte Mal, dass ich meine Studierenden aus dem Klassenzimmer werfen musste, weil ihnen das Lernen so viel Freude bereitet hatte? Das war der Eureka Moment: ich hatte zum ersten Mal die Farben gesehen.
Jedes Mal wenn Experten, die selbst nie oder sehr wenig praktiziert hatten, ihre Meinung zum Thema Digitalisierung oder hybrides Lernen in der Öffentlichkeit äußern, wird mir klar warum wir auf gesellschaftlicher Ebene so wenig lernen: Ohne eine ‚community of practice‘ (Wenger, 1998), also eine tatsächlich praktizierende und lebendige Lerngemeinschaft, verstehen zwar intellektuell alle am Diskurs Teilnehmenden was Best Practices in der Bildung auszeichnet, sie haben diese jedoch nie selbst erlebt.
Sehr viele Menschen sind hochgebildet, haben jedoch ihre eigene, sehr bürokratiesierte und mechanistische Lernerfahrung zutiefst verinnerlicht – sprachlich ebenso wie in der Strukturierung ihrer sozialen Interaktion. Daher arbeite ich bevorzugt in meinen Projekten mit Menschen, die sich in einem professionellen Bereich bewiesen haben bzw. die nötige Lebenserfahrung mitbringen. Lebenserfahrung ohne Kompetenz bleibt anekdotisch. Kompetenz ohne Lebenserfahrung bleibt folgen- und leblos. Im schlimmsten Fall wird ein bestehendes System gedankenlos repliziert. Jedes System, das sich weiterentwickeln möchte, beruht auf der Offenheit neue Informationen aufzunehmen, zu verarbeiten und sich zu transformieren.
Um auf die eingangs erwähnten Unterrichtseinheiten zurückzukommen, so gibt es keine Erfolgsformel. Neues Lernen muss in der Praxis, im konkreten Handlungsfeld ausprobiert und kontinuierlich verbessert werden. Daher ist die zielgerichtete und strukturierte Simulation von Unterrichtsplanung, wie wir sie betreiben, so essenziell: ohne eine genaue Vorstellung sozialen und selbstbestimmten Lernens, ohne die Einbettung von Lebensbezug und Selbstwirksamkeitserfahrung und ohne strukturierte Modelle für eine hohe akademische Qualität von Bildungsangeboten wären wir komplett verloren. Wir wären Versuch und Irrtum ausgeliefert.
Prof. Howard Barrows, mein früherer Mentor, hätte wohl klärend hinzugefügt ‘Professionalisation programs of any kind should emulate the reasoning of a skilled practitioner.’
Ich bin in der glücklichen Lage, sehr smarte, liebenswürdige und weltoffene Studierende unterrichten zu dürfen. Nicht überall finden wir in öffentlichen Diskursen eine solche Entwicklungsoffenheit. Groupthink, Rechthaberei, Besserwisserei, die Unfähigkeit anderen zuzuhören oder fehlende Neugier sind die Sargnägel für jeden gleichberechtigten Dialog. Wir können ebensowenig auf praktische Erfahrung pochen.
Die Qualität von Simulationen in der pädagogischen Ausbildung richtet sich nur teilweise auf unmittelbare praktische Verwertbarkeit. Ich kann von meinen Studierenden jahrelange praktische Erfahrung nicht voraussetzen. Ich kann Sie jedoch darauf vorbereiten, dass wenn sie erste eigene Lehr- und Lernerfahrungen machen, sie in der Lage sind sich und ihre Konzepte den neuen Gegebenheiten anzupassen und weiterzuentwickeln. Sie können Lernprozesse unter völlig neuen Umständen verstehen; darum geht es. Wir lernen mit der Zukunft und ihren möglichen Szenarien umzugehen.
Theoretische Modelle befreien uns letztlich von der Enge rein situierter Wahrnehmung. Eine reflektierende Phänomenologie und vermittelnde Hermeneutik hauchen unseren konzeptionellen Modellen erst Leben ein. Das Ideal der ‘reflective practitioners‘ (Barrows, 1988) war noch nie so relevant wie heute. Wir müssen lernen uns wieder von der positiven sozialen Realität, von Best Practice überraschen zu lassen, ebenso wie wir in der Wissenschaft lernen uns von Daten überraschen zu lassen. Neben der großartigen Erfahrung der Farbwahrnehmung kommt damit eine weitere Erkenntnis ins Spiel: wir sind die Brücke zwischen Theorie und Praxis, wir tanzen auf ihr, wir sind das Gespräch.

Literatur
Barrows, Howard S. (1988). The Tutorial Process. Springfield, IL: Southern Illinois University School of Medicine
Jackson, Frank Cameron (1982). Epiphenomenal Qualia. In: Philosophical Quarterly 32, 1982, S. 127–136
Wenger, Etienne (1998). Communities of Practice: Learning, Meaning, and Identity. Cambridge: Cambridge University Press.
Thank you for this article. It reminds me of Piaget’s picture of the child with two cups, one tall thin and one low wide.
My conclusion is that our current practice of putting students through 10-15 years of consecutive studies before being let out into the real world is not optimal. Maybe a few years of work experience (in relevant area) should be an admission criteria for higher education? Even more so for would-be doctors?