Merkel, die Ikone
Was fällt mir Positives zu unserer scheidenden Bundeskanzlerin ein? Wäre ich in der Politik, wünschte ich sie mir definitiv nicht als politische Gegnerin. Frau Merkel hatte sich stets als eine exzellente Machtpolitikerin gegenüber innerparteilichen wie außerparteilichen Kontrahenten bewiesen. Nach der Atomkatastrophe in Fukushima verkündete sie im März 2011 den Atomausstieg. In der Flüchtlingskrise 2015/2016 bewies sie moralisches Rückgrat in einer Zeit, in der viele Menschen gegenüber Flüchtlingen die Türen schließen wollten. Und wenn in öffentlichen Debatten die emotionale Aufwallung auf eine Skala von 1 bis 10 bei zwölf überkochte, blieb Frau Merkel stets kühl bei, gefühlt, -2 Grad. Ihre ikonische Raute (kurioserweise als ‚Merkel-Dach‘ oder ‚Raute der Macht‘ bezeichnet) gehört, ebenso wie ihre schlichten monochromen Hosenanzüge, mittlerweile zum deutschen Kulturgut. Angie is a classic!
Merkels tote Winkel
Natürlich fällt unmittelbar Kritik ein. Dazu gehört ihr Hofieren der Automobilindustrie sowie zahlreicher Wirtschafts- und Lobbyverbände, die traditionell eng mit ihrer Partei verbunden sind. Oder ihre Unfähigkeit Europa als Werteunion neu zu erfinden (dazu zählte ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Brexit oder ihre Indifferenz gegenüber Macron – eine vergeudete Chance von historischem Ausmaß), ihre Hinterzimmerpolitik am Parlament vorbei zu regieren sowie das einschläfernde Mantra der angeblichen Alternativlosigkeit ihrer selbsternannten ‚Politik der Mitte‘. Weder der Anschluss des deutschen Bildungswesens an die internationale Spitze noch die Digitalisierung des Landes kam unter ihrer Regierung voran. Die Arbeitslosigkeit sank um den Preis des massiven Ausbaus des Niedriglohnsektors, zu dem mittlerweile fast 20% aller Beschäftigten zählen. Themen wie prekäre Arbeitsbedingungen, Kinderarmut oder das Elend des Niedriglohnsektors, speziell des Pflegesektors, interessierte sie am Rande. Frau Merkel vertrat als Bundeskanzlerin den Status Quo. In dieser Rolle brillierte sie.
Der gravierendste gesellschaftliche Rückschritt aber war der Einzug der AfD in den Bundestag unter Merkels Kanzlerschaft. Die moralische Stärke während der Flüchtlingskrise konnte ihre Regierung nicht durch konzeptionelle Kompetenz untermauern. Inwieweit der bis heute entfesselte Menschenhass und Rassismus auf die damalige Abwesenheit konkreter Konzepte zurückzuführen ist, oder latent schon immer vorhanden war, bleibt Spekulation. Unbestritten ist der Zusammenhang der Ereignisse in 2015/ 2016 mit der Etablierung einer rechtsradikalen Organisation als größte deutsche Oppositionspartei nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich konnte während meiner Masterarbeit in Sozialpsychologie, die indirekt mit dem Thema zu tun hatte, schon 2015 nicht verstehen warum für geflüchtete Menschen keine Digitalpässe entwickelt wurden oder zumindest ein bundeseinheitliches Register. Oder warum zur Integration niemals klare Regeln des Gebens und Nehmens aufgestellt werden konnten, die eine besorgte bundesdeutsche Bevölkerung hätte versöhnen können. Ich erinnere mich diesbezüglich an die sehr empathischen wie pragmatischen Ausführungen von Rupert Neudeck, dem Gründer vom Cap Anamur. Darüber hinaus gab es genügend Best Practice Beispiele anderer Länder, etwa aus Kanada, wie erprobte Lösungen aussehen können. Chaos und bürokratische Fehlentscheidungen waren an der Tagesordnung. Tausende Geflüchtete verschwanden etwa herumirrend in Deutschland oder wurden planlos in entferntesten Dörfern zwangskaserniert. Merkel bewies sich als Pfarrerstochter, nicht aber als Problemlöserin.
Der Preis konservativer Politik: Die Erosion des Gesellschaftsvertrags
Nach 16 Jahren stellt sich die Frage, welchen Preis Deutschland für die Politik der CDU/CSU gezahlt hat. An erster Stelle, als den größten Pain-Point, würde ich die Aufkündigung der Solidargemeinschaft nennen, also jenen fundamentalen Konsensus, der in der Form der sozialen Marktwirtschaft die Identität der Bundesrepublik seit der Nachkriegszeit geprägt hatte. In einer Gesellschaft, in der die reichsten 10 % insgesamt 60 % des Nettovermögens besitzen ergeben sich notwendigerweise Schieflagen. Natürlich sollen an dieser Stelle externe Faktoren erwähnt werden, etwa die Nullzinspolitik der EZB oder die Tatsache, dass sich signifikantes Vermögen heute fast ausschließlich durch Erben erreichen lässt. Wohlstand für alle war 1950.
Wer zu den Wohlhabenden gehört, schickt seine Kinder auf Privatschulen, Internate oder angesehene ausländische Universitäten. Das öffentliche Bildungssystem bleibt für diejenigen übrig, die nicht zur neuen globalen Oberschicht gehören werden. Mit einem Haupt- oder Realschulabschluss wird man bestenfalls Mitglied im Prekariat auf Lebenszeit. Beim Zwei-Klassen Gesundheitssystem sieht es nicht anders aus. Wer Geld hat, lässt in den Finanzmärkten Kapital für sich arbeiten und schafft den automatisierten Reichtum, wenn irgendwie möglich, in Steueroasen. Wir erinnern uns an die Panama Papers, die das weltumspannende System aufdeckten.
Kurzum, die Oberschicht der Bundesrepublik braucht weder die Mittelschicht noch die Unterschicht zur Sicherung ihrer Macht und Privilegien. Wozu sollte sie folgerichtig Vermögens-, Erbschafts- oder Kapitalsteuer zahlen? Die Oberschicht hat die Solidargemeinschaft und damit den Sozialvertrag, der unser Land im Innersten zusammenhielt, still und heimlich aufgekündigt. Es gibt sogar neue Vorbilder. Die digitalen Overlords des Silicon Valley leben unverfroren vor, wie man quasi ohne Steuerabgaben unumstößliche Monopole begründen kann. Wir erleben soziale Lerntheorie in Aktion. In einer neuerlichen SPIEGEL-Kritik an Merkels Erbe wurde der treffende Begriff der ‚Ich‘-Gesellschaft vorgestellt. In einer solchen Gesellschaft gelten vornehmlich die eigenen Bedürfnisse, Ansprüche und Rechte. Pflichten gibt es kaum welche. Wenn es einen Wert gibt, der in den Netzwerken am schnellsten erodiert, dann ist es die Solidarität für die Schwächsten der Gesellschaft einzustehen.
Wie wenig Solidarität de facto derzeit gilt beweisen nicht nur unsolidarische Impfverweigerer. Solidaritätsverweigerung spiegelt sich offen in der Verweigerung besonders wohlhabender Menschen wider, sich angemessen an den enormen Kosten der Pandemie in der Form von Steuerabgaben zu beteiligen. Sei es das Armrechnen als Volkssport oder die Forderung nach finanziellen Schonräumen für Bessergestellte: Die Innovationsfähigkeit der Märkte wird, so wird vergewissernd betont, die Schulden wie von Geisterhand tilgen. Es wird schon klappen. Solidarität im Sinne gewerkschaftlicher Organisation wird im Billiglohnsektor sogar aktiv bekämpft, etwa durch Schrumpfung von Kernbelegschaften, die massive Einstellung ausländischer Leiharbeiter oder, straight-forward, durch Kanzleien, die auf die Zerschlagung gemeinschaftlicher Organisation spezialisiert sind.
Die politsche Kultur des Status Quo
Im Schatten von Frau Merkel gedeihten die kuriosesten Politikkarrieren. Manchmal wünschte man sich, es gäbe eine Art mittelalterlicher Beiname, etwa Julia Klöckner‚ die Schweinequal-Verlängerin. Andreas Scheuer ‚ der Milliardenversenker. Dorothee Bär‚ die Funklochverwalterin oder Armin Laschet‚ der Wankelmütige. Oder Georg Nüßlein, Alfred Sauter, Nikolas Löbel und andere, die ‚Einzelfall-Maskenmafia‘. Oh wie gut wurde abgesahnt! Wer die Nebeneinkünfte von Bundestagsabgeordneten analysiert stellt schnell fest, dass die Nebengeschäfte von CDU/CSU Abgeordneten nur noch durch den pfiffigen Eifer von FDP Abgeordneten überboten wird. Der Weg deutet in die Plutokratie: Es geht offensichtlich primär ums Geld, um lukrative Aufsichtsposten nach der offiziellen Amtszeit, kaum um das Mandat. Wer zu offensichtlich versagt, muss im schlimmsten Fall ein Rezo-Video über sich ergehen lassen. No skills eben.
Unter Frau Merkel hatte sich in ihrer Amtszeit eine Politikkultur etabliert, die sich durch ein selbstgefälliges top-down Management und damit einen Mangel an demokratischen Ethos auszeichnete. Habermas kommentierte hierzu auf höchstem Niveau. Das gegenwärtige Gejammer der CDU/CSU im Angesicht einer drohenden Wahlniederlage ist verständlich: Mit dem Verlust der Macht geht der Verlust von Privilegien einher, sei dies das liebgewonnene Bundestagsmandat, attraktive Nebeneinkünfte, die Aussicht auf Vorstandsposten, eintragsreiche Lobby- und Beratertätigkeiten oder der entspannte Luxus ohne Rücksicht auf soziale Konsequenzen durchregieren zu können. Hinzu kommt der königliche Anspruch, nicht in Frage gestellt werden zu dürfen, schließlich versteht man sich als alternativlos.
So ist es wenig erstaunlich, wie in den letzten Tagen das Schreckgespenst ‚roter Politik‘ an die Wand gemalt wird (die ‚rote Socken‘ Phobie), wo doch die CDU/CSU am meisten damit ringt sich in Ostdeutschland von der AfD abzugrenzen. Mit dem Schreckgespenst eines Linksrucks soll der tatsächliche interne Rechtsruck vergessen gemacht werden. Und ewig grüßt Herr Maaßen.
Bundeskanzlerschaft 2021: Alles lahme Enten?
Zu den derzeitigen Bewerbern bzw. Bewerberin um das höchste Amt der Republik lässt sich wenig Weltbewegendes sagen. Alle hoffen, dass Olaf Scholz in Bezug auf Cum-Ex und Wirecard keine Leichen im Keller hat. Armin Laschet hatte sich durch seine onkelhafte Wankelmütigkeit im Vorfeld disqualifiziert und ist durch seine Schwammigkeit zu belanglos für eine Kommentation geworden. Annalena Baerbock kommt nach ihren Pannen leider als keine starke Persönlichkeit rüber. Dafür ist sie zumindest gut informiert, ist stets engagiert bei der Sache und frei von historischen Ballast. Ein Trostpflaster für alle anderen kam per Wurmloch: Im SPIEGEL-Videointerview mit Markus Söder und Robert Habeck wurde zumindest der exotische Einblick in ein schwarz-grünes Paralleluniversum ermöglicht. Wie wir wissen, entschied der CDU Bundesvorstand anders.
Das Kapital im 21. Jahrhundert und die andere Kandidatin
Ein Blick auf die internationale Situation bestätigt meine Vermutung, dass führende Staaten wie Singapur, meine frühere Heimat, ihre Kapitalmärkte im Sinne ökologisch- und sozialverträglich- nachhaltiger Investitionen (etwa green bonds) ausrichten.
The future of capital is green. Das sagten nicht Die Grünen sondern Ravi Menon, der Managing Director der Monetary Authority Singapurs. Ökonomie und Wissenschaft verbinden sich zu neuen Allianzen, buchstäblich zur Öko-nomie. Eigentlich hätte Frau Merkel als Physikerin viel vehementer den Klimaschutz vorantreiben sollen. Doch mit Nordstream 2 plus den Kohleausstieg erst ab 2038 können die Pariser Klimaziele nicht eingehalten werden.
Den Ausblick auf neue Konzepte verspricht Annalena Baerbock, die Anti-Merkel. Baerbock repräsentiert eine jüngere Generation. Sie präsentiert sich als eine hervorragend informierte und aufgeweckte Kandidatin. Zudem als fehlbar und verletzlich – und damit das genaue Gegenteil von Angela Merkel. Als Newbie erscheint Baerbock noch etwas wackelig auf den Beinen, aber ich sehe Potenzial. Ich gebe lieber Menschen eine Stimme, die neu auf der Bühne sind und ihr Bestes versuchen anstatt Menschen, die in ihrer Amtszeit nachweisbar viele Rollen vermasselt und nichts dazugelernt hatten.

Jenseits der Ego-Powertrips beginnt die Weltwachheit
Realistischerweise gehe ich nach der Wahl im September von einer langen Regierungsbildungsphase aus, da sich mir inhaltlich nicht erschließt wie ein Dreierbündnis (in welcher Kombination auch immer) tragfähig wäre. Dazu sind die programmatischen Gräben zu tief. Wir können nur hoffen, dass sich die CDU/CSU in der Neuorientierung nicht ähnlich radikalisiert wie die Republikaner in den USA, denn die Polarisierung von Konservativen versus Progressiven ist im Grunde eine Scheindebatte. Die ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme unserer Zeit sind hochkomplex, sodass sie nur gemeinsam und überparteilich zu lösen sind. Wir brauchen ein Onboarding für alle.
Was nur wenige deutschen Politiker:innen erkennen ist, dass Europas Demokratien auf globaler Ebene mit neuen Autokratien, allen voran China als welterste Digitaldiktatur, konkurrieren. In den kommenden Jahrzehnten werden internationale Bildungssysteme von Nationen wie China und Indien dominiert werden. By the way, dieser Prozess hat bereits in der Wissenschaft und Forschung begonnen. Deutschland, heute in der Digitalisierung unter den Schlusslichtern der EU, hat mit seinen bürokratischen Grabenkämpfen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden wenig realistische Aussicht im Bildungsbereich zur Weltspitze auszuschließen.
Was ich mir wünschte wäre daher ein Loslassen von Parteipolitik und die Hinwendung zu einer pragmatischen und überparteiliche Zusammenarbeit. Dies würde eine Befreiung von Personenkulten, von Sarkasmus, Häme, Ironie und unterkomplexen Vorteilen implizieren. Ich erinnere mich daran, wie großartig beispielsweise Fabio De Masi (Linke), Florian Toncar (FDP) und Danyal Bayaz (Grüne) im Wirecard Untersuchungsausschuss zusammenarbeiteten.
Es wäre am zielführendsten, wenn sich für zentrale Themen wie den Klimaschutz, den Umbau zu einer nachhaltigen Wirtschaft und soziale Gerechtigkeit in ähnlicher Weise parteiübergreifende Kooperationen ergeben könnten. Der Rückzug auf traditionelle Parteipolitik scheint vor den Hintergrund der anstehenden Herausforderungen hoffnungslos antiquiert. Traditionelle Parteienpolitik ist in der Tat oft nicht mehr als ein medial aufwendig-inszeniertes Kasperletheater. Parteien müssen sich neu erfinden um die Relevanz der Probleme ihrer demokratischer Akteure in einer Weise zu komponieren, die es erlaubt konkurrierende Problemlösungsmodelle überparteilich zu moderieren und auszuhandeln. Es kann im ausgehenden 21. Jahrhundert nicht mehr um eitle Ego-Machtkämpfe oder einfache Mehrheiten gehen, die zwangsläufig eine Komplexitätsreduktion möglicher Lösungen provozieren (abgesehen von einer in Kauf genommenen systemischen Dysfunktionalität auf Seiten der ‘Kontrahenten’, die via Feedbackschleifen des Systems ohnehin zum Sender zurückkehrt), sondern um die Etablierung partizipativer ‘in-process‘ Kooperationsverfahren, an deren Komposition alle demokratischen Akteure beteiligt sind. Vereinfach gesagt geht es nicht mehr um Interessenvertretung, sondern eine kooperative Interessengestaltung. Lösungskonzepte werden idealtypisch gemeinsam entwickelt. Unsere aktuelle Parteienpolitik (‘Wir hier – Ihr dort – Ein unüberbrückbarer Graben!’) erscheint in diesem Licht als unnötig konfliktbasiert und wenig nachhaltig.
Let’s co-create Germany!
Wir müssen eine aktive, partizipative Demokratie neu denken und das bedeutet, dass wir gemeinsam mutige Lösungen entwickeln. Let’s co-create Germany! Auf ein Deutschland, das hierzu fähig ist und am gleichen Strang ziehen kann, wäre ich richtig stolz. Die realistische Aussichten dafür, dass Parteien über ihren eigenen Schatten springen, schätze ich jedoch als sehr gering ein. Dazu brauchte es einen politischen Kulturwandel. Keinen ‘Wumms’, sondern eine Supernova, eine Allianz aus jungen und professionell-erfahrenen, zukunftsgestaltenden Menschen ohne versteckte Agenda.
Bei mir anfangend… ich bin bereit.
Picture credits: Merkel (Reuters, Archiv), Co-Working Space (Shridhar Gupta, Unsplash)
…wirklich toll. Besonders die Einschätzung von Merkels Versäumnissen. Sehr lesenswert.
Vielen Dank
Heike Hurlin