Es ist nicht leicht eine Eröffnung zu formulieren, die nicht zusätzlich Salz in unsere medialen Wunden streut. Wir leben in einer Zeit, in der selbst den ruhigsten Menschen, wie neulich dem sonst sehr gefassten RKI-Präsidenten Lothar Wieler, in Anbetracht steigender Infektionszahlen und teils wissenschaftsignoranter Politik, der Kragen platzte. Ja, wie fühlt sie sich an, diese neue Realität? Und wie können wir mit ihr umgehen?
Im 20. Jahrhundert erlebten Menschen Kriege und dramatische soziale Umwälzungen in der Form grausamster Konflikte. Im 21. Jahrhundert vollziehen sich globale Katastrophen wie Covid oder der Klimawandel dagegen anders, fast im Zeitlupentempo und begleitet von Hiobsbotschaften, die wie aus einer postapokalyptischen Science-Fiction klingen (‚Omikron ist vermutlich schon in Deutschland‘). Die Einschläge kommen, selbst wenn abgepuffert durch unsere Vollkasko-Wohlstandsgesellschaft, stetig näher. Die unerbittliche Exponentialfunktion: Jeden Tag stürzt ein Flugzeug ab, sehr bald wohl mehrere.
Andere menschliche Katastrophen vollziehen sich dort, wo sich Kameras selten oder nie hinzugesellen: zu den Schlauchbooten verzweifelter MigrantInnen auf hoher See, den entlegenen Provinzen Afghanistans oder zur abgeschirmten belarussischen Grenze. Wäre die Welt ein menschlicher Körper, befände er sich in einem permanenten Fieberzustand mit multiplen Entzündungsherden. Wenn wir in einer solchen Not doch wenigstens zur Sprache finden könnten!
Ich hatte mir diesbezüglich neulich eine Kommentar-Fatigue diagnostiziert: Es ist kaum möglich in der digitalen Öffentlichkeit zu einem hochrelevanten Thema Stellung zu beziehen, ohne persönlich angegriffen zu werden bzw. auf hoch emotionalisierte Menschen zu treffen, die sich auf die pathologische Provokation als ihren einzig möglichen Gesprächsmodus verengt haben. Persönlich habe ich eine sehr seltsame Reaktion auf Provokation: ich werde entweder sehr müde, da mich Aggression in ihrer Simplizität langweilt (nur gute Argumente bewirken meine Aufmerksamkeit), d.h. ich muss mich zwingen ein Gähnen zu unterdrücken, was manche Menschen leider noch aggressiver macht, oder ich versuche mich in spielerisch-kognitiven Antworten, die zumindest eine gewisse Freude bereiten. Aber können wir dem Kuddelmuddel aus schlechten Nachrichten und einer verkorksten Debattenkultur philosophisch etwas entgegensetzen?
Philosophia.
‚Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde‘, lautete die erste Version des kategorischen Imperativs von Kant. Die zweite ‚enkeltaugliche‘ (Harald Welzer) Version im Hinblick auf die Menschheit kennt leider kaum jemand. Vollständigerweise soll erwähnt werden, dass für Kant der unterliegende Wille zum Guten für den Imperativ eine notwendige Voraussetzung war. Drehen wir mit dem Imperativ eine Testrunde.
Gut ist folglich, wenn es kein unnötiges Leiden oder Sterben gibt, wenn sich Menschen als Freie unter Freien begegnen können. Im Sinne Kants können wir fragen: Wie würde unsere Welt aussehen, wenn alle Menschen die Möglichkeit hätten sich impfen zu lassen und dies auch täten? Wie könnte unsere Welt aussehen, wenn wir aus der Todesspirale ewig wachsenden Konsums aussteigen könnten? Wir sprechen in der Verallgemeinerung von alldem, das wir zugleich wollen können. Hegel hätte an dieser Stelle vermutlich ergänzt (oder hineingebuttert), dass Freiheit ja die Einsicht in die Notwendigkeit ist.
Beide Geistesgrößen, Hegel wie Kant, hatten weniger Probleme mit der Vernunft als mit deren Umsetzung. Reicht logisches Denken oder brauchen wir gar eine Revolution? Ich empfehle an dieser Stelle ein Studium zu Kants zwiespältigem Verhältnis zur Französischen Revolution. Hegel schrieb bezüglich des kantischen Ansatzes an Schelling, nicht ohne Ironie: “Vom Kantischen System und dessen höchster Vollendung erwarte ich eine Revolution in Deutschland, die von Prinzipien ausgehen wird, die vorhanden sind und nur nötig haben, allgemein bearbeitet, auf das bisherige Wissen angewendet zu werden.“ Wir müssen lediglich unseren Maximen zu folgen und diese klug, quasi mechanistisch, anwenden. Wenn Geschichte doch so einfach wäre!
Hegels idealistische Philosophie, die sich ganz dem ‚Glanze der Idee‘ verschrieb, erkannte in der Französische Revolution, im Gegensatz zum hadernden Kant, einen “herrlichen Sonnenaufgang“. Der revolutionäre Prozess war für Hegel jedoch weniger in realen sozialökonomischen Verhältnissen begründet als in der denkenden Befreiung der Subjekte. Der aufkommende Cartesianismus, der die Veränderung in der Welt des Geistes als eine Voraussetzung für reale geschichtliche Prozesse verstand, kam Hegel entgegen. Im heutigen Kontext wissen wir beispielsweise um die Schwierigkeit wissenschaftliche Erkenntnisse ohne politische Vereinnahmung zu kommunizieren.
Aus geschichtsgestaltender Sicht behält Hegel, einen Freiheitsbaum pflanzend, insofern recht, da es für jede wirkliche Veränderung die Ausarbeitung gedanklicher Konzepte bedarf. Er hat insofern nicht recht, da solche Konzepte nicht nur der Politik und öffentlichen Meinungsbildung zur Verfügung stehen müssen, sondern von demokratischen Akteuren gemeinsam entwickelt werden müssen um in modernen Gesellschaften konsens- und anschlußfähig zu bleiben – und damit eine geschichtliche Wirkung entfalten können. Dies kann nicht durch einen Napoleon als geschichtliches Genie, wie Hegel annahm (oder heute, ein Xi Jinping, der sich außerhalb der Staatengemeinschaft positioniert), bewerkstelligt werden.
Wir erkennen in dieser Ausführung eine doppelte Verantwortung der Politik. Denn zum einen ist sie der Öffentlichkeit schuldig pragmatische Konzepte für Zukunftsoptionen zur Disposition zu stellen (nennen wir dies vereinfacht das ‚hegelsche Paradigma glänzender Konzepte‘), zum anderen sollen diese Konzepte aus nachvollziehbaren Begründungszusammenhängen erfolgen (nennen wir dies vereinfacht das ‚kantische Paradigma eines begründeten Guten Willens‘).
Vielleicht können wir die Verstocktheit der gegenwärtigen Diskurse dahingehend auflösen, dass wir beide Paradigmen reziprok in Beziehung setzen. Dies würde voraussetzen, dass (a) Zukunftskonzepte, sollten diese existieren (sehr viel Frustration entsteht unter anderem durch die generelle Abwesenheit von Konzepten), klar und verbindlich kommuniziert werden sowie (b) die Begründung von Konzepten gleichfalls transparent in der Öffentlichkeit dargestellt wird. Der Umkehrschluss ist genauso valide, denn Konzept, Kontext und Begründung kommen stets in einem ‚package deal‘:
Wir können weder naiv auf die vermeintliche Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit sozialer Akteure pochen ohne sozialökonomische, gesellschaftliche wie politische Rahmenbedingungen und deren Verantwortlichkeiten in Betracht zu ziehen, noch können wir die Orientierung an einen begründeten guten Willen hinsichtlich erwünschter sozialer Zukunftsmöglichkeiten aufgeben.
In Bezug auf Covid oder der Klimakatastrophe ergeben sich folgerichtig Maximen der kommunikativen Transparenz sowie der öffentlichen Einbindung. Verharren Diskurse in persönlicher Psychologie und politischer Parteinahme, erreichen diese niemals die kantisch-hegelsche Ebene glänzender Konzepte auf der Basis einer reflektierten Handkungskompetenz. Dementsprechend muss sich unsere Gesprächskultur, ebenso wie das Erkenntnisinteresse öffentlicher Medien (was möchten beispielweise JournalistInnen und Talkshow-ModeratorInnen in ihren Sprachakten wirklich erkennen und darstellen?) weiterentwickeln.
Die gegenwärtigen Katastrophen sind zu allumfassend-bedeutsam, um sich im Streit zwischen politischen Egos zu verlaufen und sie sind zu partikular, um nicht in die Weiterentwicklung unserer Diskurskultur einzufließen.

Quellen zu Hegel: Hegel an Schelling, Bern, 16.04.1795, in: Briefe von und an Hegel. Hrsg. von Johannes Hoffmeister, Band I, 1785 bis 1812, Verlag Felix Meiner, Hamburg 1952, S.23f.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Geschichte, Reclam Verlag, Stuttgart, 1961
Photo Credit: Joseph Beuys ‘Schlitten’ (1969), Museum Ulm