All den lieben und wundervollen Menschen gewidmet, die mir dieses Jahr geholfen hatten, anzukommen. Ganz besonders meiner Schwester.

Im Deutschlandfunk stieß ich neulich auf eine schöne Podcast-Folge, in der zugewanderte Menschen ihre Erfahrungen mit dem deutschen Heimatbegriff schilderten. Das hatte mich inspiriert meine eigene Erfahrung zu reflektieren: Was war und ist Deutschland für mich als Heimat? Eine kleine autobigrafische Erzählung.

Die Tübinger Jahre vor meiner Auswanderung

Anfang der 80er Jahre studierte ich an der Universität Tübingen Sinologie (Chinesisch), Neue Englische Literatur und Allgemeine Rhetorik, letzteres Seminar beim großartigen Walter Jens. Leider waren meine Lebensbedingungen zu dieser Zeit prekär. Die Erfahrung der Armut prägte mein studentisches Leben. Bafög funktionierte noch nicht so smart wie heute und brachte mich in einen üblen Konflikt mit meinem Vater, bei dem das Amt die Gelder einforderte, bis ich aufgab. Ich musste in Fabriken arbeiten um ein Studium zu finanzieren, etwa in einer asbestverarbeitenden Fabrik in der Nähe Tübingens, die Bremsbeläge herstellte. Einmal, als ich komplett abgebrannt war, war ich gezwungen von einem Supermarktgelände nachts Kohlen klauen um in meiner Kellerwohnung im Winter nicht zu erfrieren.

Damals gab es tatsächlich noch Temperaturen bis -15° und ich lebte in einer, sagen wir mal sehr preisgünstigen Kellerwohnung bei der liebenswürdig – schrulligen alten Frau Berauer in der Wilhelmstraße in Kirchentellinsfurt. Wenn man an der Kante lebt, lernt man nützliche Tricks; etwa, dass man die Briketts erst in feuchtes Zeitungspapier wickelt bevor man sie in die Glut legt, sodass sie sich in der Nacht von selbst entzünden und man nicht von der Kälte aufwacht. Wasserrohre froren immer wieder ein. Um morgens Wasser zu bekommen, bemühte ich einen Föhn um das Eis aufzutauen.

Der berühmte Hölderlinturm und Stocherkähne. Tübingen ist eine grandios-schöne und idyllische Studierendenstadt. Leider fehlte mir damals das Geld mein Studium zu finanzieren.

Meine politische Rebellenzeit ist ein Kapitel für sich. Deutschland unter Helmut Kohl (die ‚Birne‘) war rückwärtsgewandt, autoritär und arrogant. Den Titel ‚Kanzler der Wende‘ hatte er nie verdient. Als junger Mensch trug Kohls erstickender Konservatismus, der an Tradition und bürgerlichen Tugenden anknüpfte und  als sogenannte ‚geistig-moralische Wende‘ verkauft wurde, maßgeblich dazu bei dass ich an Deutschland verzweifelte. Das war kein Land für junge Menschen, sondern für anti-intellektuelle, bämbelschwenkende alte Säcke.

Die Seminare an der Uni waren hoffnungslos überfüllt und die Arbeitslosigkeit unter Akademikern Mitte der achtziger Jahre erreichte ihren Höhepunkt. Kurzum, ich erlebte Deutschland zu dieser Zeit weder als angenehm, noch als eine Heimat, die mir eine Zukunftsperspektive bieten konnte. Eine halbjährige Reise durch China im Jahr 1987, beginnend in Hong Kong, dann weiter nach Guangzhou, Chengdu, entlang dem gelben Fluss nach Shanghai und schließlich Beijing, Rückreise mit der transsibirischen Eisenbahn und einige Tage bei einer russischen Rockband in Moskau, gaben mir genug Selbstvertrauen um die Flucht aus Deutschland zu planen. Nur raus aus dem Elend!

Ich schmiss mein Studium, fuhr Lastwagen für eine Hydrokulturfirma in Fellbach und verdiente mir so Geld für ein One-Way Ticket nach Singapur. Mein Vater hatte einmal in Singapur Rohmaterialien für seine Firma eingekauft und uns eine Dia-Show gezeigt. Ich fand die LED-Lichter zu Weihnachten, die um Palmen gewickelt wurden, unglaublich faszinierend und dachte in meiner jugendlichen Naivität: ‚Das wäre doch etwas! Hey, leuchtende Palmen, tolle destination!‘ So viel zu einer rationalen Auswahl von Kriterien für die zukünftige Lebensgestaltung: Ich war bereit in die Welt zu springen.

Meinen Eltern erzählte ich von meinen Plänen nichts, denn sie hätten sich zu viele Sorgen gemacht – wie Eltern so sind. Ich machte daher einen Deal mit mir selbst: von nun an sollte ich selbstverantwortlich für mein Leben sein. 100% bedeutet: Sollte ich in Singapur einen Job finden, wäre aus meiner Sicht alles in Ordnung und meine Eltern würden sich vermutlich freuen, dass ich nun finanziell unabhängig bin. Ich würde niemanden mehr eine Last sein. Sollte ich scheitern, müsste ich in das gut strukturierte, doch trostlose Deutschland zurückkehren. Etwas Spaß hatte ich doch. Damals gründete ich mit Freunden eine New Wave Band, ‚The Human Zoo‘, und meine einzigen verwertbaren praktischen Skills lagen damals in der Hobby – Musikproduktion mit einem Mehrspurkassettenrekorder.

Wenige Tage vor meinem Abflug, fiel die Mauer. Der Fernseher lief im Hintergrund. Menschen schwenkten Deutschlandflaggen. Ich nahm zunächst an, es wäre ein amerikanischer Film, der die Deutschen auf die Schippe nimmt. Auf dem Weg nach Frankfurt kamen uns viel Trabbis entgegen. Ostdeutsche Mädchen mit hochgesteckten Haaren, die uns zuwinkten.  ‚Wie die B-52s‘, scherzte mein Freund, der mich begleitete, schmunzelnd. Irgendwas Historisches musste wohl passiert sein. Ich würde es aus der Ferne weiterverfolgen.

Mit einem Atari ST Minicomputer, einem MIDI Keyboard und einem Drumcomputer flog ich nach Singapur. Beim Landeanflug auf Changi Airport schaute ich staunend auf die erleuchteten Netzwerke des Stadtstaates. In meinem jugendlichen Überschwang ging mir ging nur ein einziger Gedanke durch den Kopf: ‚… I‘m gonna take this city!‘ Verrückt und ganz so irrational war das im Nachhinein nicht, denn ich hatte nichts zu verlieren.

30 Jahre in den Armen Asiens

In all den Jahrzehnten habe ich gelernt, Retrospektiven nicht durch eine rosarote Brille zu verklären. Auch in Asien gab es viele Momente, in denen ich verzweifelte und in Tränen versank. Als Immigrantin in einer komplett neuen Kultur, ohne Kontakte, ohne Familienunterstützung, ohne einen Uni- oder Berufsabschluss, und gerade genug Geld um mir ein Backpackerhotel und notfalls einen Rückflug zu finanzieren. So fing die große Reise an. Handys und Internet gab es nicht.

Eines Tages stand ich an der Schwelle zu einem kleinen Tonstudio im Dachstuhl von No. 66 Boat Quay, heute Teil einer großen Touristen Meile, und schaute in das etwas verdutzte Gesicht eines Australiers, Barry, der in seinen besten Tagen etwas an Sean Connery erinnerte. Zu seiner Zeit als Produktionsassistent arbeitete er an Francis Ford Coppolas ‚Apocalypse Now‘ und ‚Deer Hunter‘ mit Robert de Niro. Bei solch interessanten Leuten blieb ich öfter hängen.

Ich hatte nicht alle Zeit dieser Welt und musste daher sehr schnell zum Thema kommen. Das ging dann etwa so: ‚Hi there, Sind Sie der Chef dieses Tonstudios? Ich komme aus Deutschland, kann Musik schreiben und kenne mich ganz gut mit Computern aus. Ich wollte mal fragen, ob Sie einen Job für mich hätten.‘

‚Kannst Du Jingles schreiben?‘, fragte Barry. ‚Klar, kann ich‘ antwortete ich. Barry zögerte nicht lang: ‚Also gut, ich könnte Unterstützung gebrauchen. Na dann lass uns mal Deinen Computer und Keyboard vom Warehouse abholen.‘

Ich lernte in dieser Zeit viel, etwa analoge Tonbänder mit Rasierklingen zurechtschnipseln (analoge Wirklichkeit!) oder Abmischen lernen mit Colin Bannister, der für die Rolling Stones Livekonzerte die Technik besorgte. Was für ein Privileg! Ich nahm die Klavierkonzerte meines Freundes und amerikanischen Komponisten John Sharpley auf und arbeitete regelmäßig mit professionellen MusikerInnen aller Genres zusammen. Learning by doing.

Vier Jahre später gründeten wir zusammen das erste volldigitale Audiostudio Südostasiens: Speakeasy Digital Pte. Ltd. Die Firma gibt es noch heute. Wir finanzierten ein amerikanisches Computersystem (das NED Synclavier), dessen Software von Lucasfilms Entertainment Ltd. und Skywalker Sound entwickelt wurde. Ich schrieb in den folgenden Jahren Musik für Fernsehcommercials (es waren so um die 600), Dokumentarfilme und einige Indie-Filme. Für Singapore Airlines, IBM, Mercedes-Benz, Mastercard, das Gesundheitsministerium und viele andere mehr. Dabei kooperierte ich mit den Top Ten Marketingfirmen Singapurs wie Saatchi & Saatchi, Ogilvy & Mater, TWBA, Batey Ads, JWT etc. Vor allem lernte ich im internationalen Rahmen mit Kunden umzugehen und mit Barry die Firma zu führen.

No.66 Boat Quay. Unser erstes Studio befand sich im obersten Stockwerk.

Einmal besuchten mich frühere Kommilitonen aus Tübingen. ‚Wow, ist ja toll was du so machst! Sei froh, dass du aus Deutschland raus bist.‘ war der Grundtenor.

Ich entgegnete ihnen: Ja, es lief schon irgendwie ziemlich abgefahren, aber ihr habt eure Uniabschlüsse, euren Magister, ihr habt ‚den Schein‘, den Abschluss!

Trotz des hart erarbeiteten beruflichen Erfolges litt ich permanent unter diesem Minderwertigkeitskomplex. Nach dem Motto: Du hast ja nie etwas Richtiges gelernt. Solange du keinen Abschluss hast, zählt all das, was Du machst, nicht richtig. So bin ich in Deutschland erzogen worden. Erst viel später lernte ich im Leben, dass ein Schein auch nur ein Schein sein kann (pun intended).

Als ich später in die Lehre zur Temasek Fachhochschule wechselte, wurde meine Achilles-Ferse adressiert. ‚Es macht nichts, dass Sie keinen Abschluss in der Lehre haben‘, meinte mein früherer Boss, Edmond Khoo, ‚Sie haben sich in der Wirtschaft bewiesen und wir brauchen Leute wie Sie, die unsere jungen Menschen lehren.‘ Die international anerkannte Lehrerausbildung aus England bekam ich umsonst.

Das Angst-Motiv fehlender Abschlüsse verfolgte mich tatsächlich bis in meine tiefsten Träume. Manchmal wachte ich schweißgebadet auf bis mir klar wurde: Gütiger Himmel, ich habe eine Ausbildung! Ich habe eine Ausbildung! Eine formale Anerkennung … in einem der besten Bildungssysteme der Welt!

Das waren Momente, die mir Deutschland nie zu geben vermochte.

Mein Einstieg in die Bildungswelt: Temasek Polytechnic. Architektur von Stirling and Wilford.

Verwaltung und Bürgeranliegen waren in Singapur hocheffektiv im Sinne einer Service Orientierung ausgerichtet. Effizienz und Zufriedenheit mit Regierungsdiensten standen hoch auf der Agenda. Zur Weihnachtszeit wurde beispielsweise das 13. Gehalt aller Beamten an das Wirtschaftswachstum angepasst um zu signalisieren: ob selbstständig, angestellt oder verbeamtet – wir sitzen alle im gleichen Boot. Beamte waren zudem, auch wenn nach zahlreichen Revisionsschleifen, bei grober Unfähigkeit durchaus kündbar. Ethos und innere Haltung spielten eine große Rolle. Es gab einen großen Stolz anderen Menschen zu dienen. Nicht ohne Grund positionierten meine früheren Kolleginnen, Lynda Wee Keng Neo und Megan Kek Yih Chyn in ihrem Buch ‚Authentic Problem-Based Learning‘ ihr leitendes Motto gleich zu Anfang des ersten Kapitels:

Be of service to others, not to yourself.’

In den folgenden Jahrzehnten folgte eine Gelegenheit der nächsten. Ich wurde zum Go-Getter und arbeitete unter anderem als Firmendirektorin, als Programmdirektorin für ein internationales College in Thailand, als UI-Designerin und Marketingexpertin in einem Hightech Startup und konnte mich stetig weiterqualifizieren – von Kanada über Oxford bis nach New York. Im Englischen nennen wir das ‚thriving‘: aufblühen, wachsen, prosperieren und Erfolg haben. Doch nicht nur für mich: Meine Studierenden begannen Firmen zu gründen oder fanden kreative wie hochdotierte Jobs. Ich wurde wiederholt als Beraterin für die Entwicklung problembasierten Lernens (PBL) an der Temasek Design School gewählt, beriet Ministerien und genoss unter meinen Studierenden wie meinen Vorgesetzten große Beliebtheit.

Am Ende meiner Zeit in Singapur wurde ich als Beraterin zur nationalen Curriculum Entwicklung des Musikunterrichts (A und O-Levels) in das Ministry of Education (MOE) in Singapur eingeladen. Quasi in die Höhle des Löwen. Das war ein Höhepunkt. Meine professionelle Sozialisation als junger Mensch fand in Asien statt. Das ist mein asiatisches Herz. Asien ist Heimat für mich, die Wiege meiner Entwicklung, meine alma mater. Bei unserem Abschiedsdrink, bevor ich nach Shanghai weiterzog, fragte mich Barry:

Do you know what is the difference between Asia and the rest of the world ? (Zwischenbemerkung, wir hatten schon einige Drinks intus).

No idea whatsoever. Hit me!’, anwortete ich freimütig und Barry fuhr fort: ‚You know what the problem with America is? (…) well, America FEELS like America. (…) And you know what the problem is with Europe? (…) Europe FEELS like Europe. But Asia (…), well Asia, feels like a giant funfair.

Für mich ist das bis heute die beste Beschreibung. Ob Geschäftsgründungen oder Liebesbeziehungen, ob abgefahrene Technologieentwicklungen, die Finanzierung verrückter Ideen oder das Wachsen von Freundschaften… alles passiert in den multikulturellen Gesellschaften Asiens im Turbo, fast magisch, und Du fühlst förmlich diese Du-kannst-hier-alles-erreichen-wenn-Du-nur-willst Energie.

Singapur – Shanghai – Bangkok, das waren 30 Jahre, mehr als die Hälfte meines Lebens.

Der internationale Spirit während meiner Zeit als Programmdirektorin in Thailand: mit meinen Kolleginnen Alka Puri (Indien) und Francesca Lima (Italien) und Studierenden. Living the dream.

Rückkehr in ein verändertes Deutschland: alte Ängste und neue Beziehungen in einer gewandelten Welt

Es gab mehrere Gründe für meine Rückkehr nach Deutschland. Einer der Hauptgründe war die verschlechterte Gesundheit meiner Mutter. Meine Schwester hatte sich jahrelang um sie gekümmert und ich hatte Schuldgefühle, da ich aus der Ferne nie viel helfen konnte. Ein Anreiz war, dass Deutschland als ein vorzüglicher Ort erschien um zu promovieren. Zum anderen konnte ich die zunehmend korrupten Geschäftspraktiken des Privatcolleges, für das ich arbeitete, nicht länger hinnehmen.

Die Übernahme Thailands durch eine Militätjunta tat ein Übriges: Du lernst, was für ein hohes Gut ein moderner demokratischer Rechtsstaat wie Deutschland eigentlich ist. Selbst dann, wenn viele Menschen, die darin leben, aus Verwöhnung und Einfallslosigkeit nicht viel daraus machen.

Der Entschluss, meine asiatische Heimat zu verlassen, fiel schwer. Die Aussicht mit 55 Jahren bei null anzufangen in einem Deutschland, mit dem ich nur schlechte Erinnerungen verband, lief mir instinktiv zuwider. Aber ich würde ja, nach meinem Master in Angewandter Psychologie, den ich parallel an der Universität Liverpool abschloss, promovieren. So gab es einen Funken von Zukunftsperspektive. Das war damals mein Traum: Promovieren, Unikarriere und ab in die Wissenschaft! Endlich!

Ich startete sehr ‚basic‘ und lebte zunächst im Haus meiner Schwester in Süddeutschland. Unsere Mutter lebte mit uns und ich hatte das große Privileg mich um sie zu kümmern, nochmals ganz intensiv für sie da sein zu können, bevor sie das Jahr darauf verstarb.

Wie startet man als zurückkehrende globale Bildungsmigrantin in Deutschland?

Ich sträubte mich sehr gegen Hartz IV. Aus asiatischer Sicht ist es zutiefst unehrenhaft von anderen Menschen Geld anzunehmen.

‚Das machen alle hier!‘, meinte meine Schwester ganz natürlich. Ich holte tief Luft, rollte die Augen und musste wieder einen Pakt mit mir schließen. Ich sagte mir: Ich kann dieses Geld ehrenhafter deutscher Steuerzahler nur unter der Bedingung annehmen, dass ich es ihnen in meiner Produktivität in meinem zukünftigen Job zurückzahle. In diesem Fall wären die Balance und Harmonie wiederhergestellt. Nun ja. Die vage Hoffnung besteht, dass ich mich in den letzten drei Jahren an der Universität Oldenburg entsprechend bewährt habe. Medientechnisch gehört ein Emoji hierher: 😊.


An dieser Stelle ein kurzer Einschnitt. Ich hatte mich mit einem sehr guten Freund, Christian, der zur gleichen Zeit wie ich in Bangkok Architektur lehrte und vor kurzem nach Deutschland zurückgekehrt war, lange darüber unterhalten, warum es uns Heimkehrern so schwer fällt zurückzukehren. Es gibt viele Gründe.

Ausländische Studienabschlüsse und Ausbildungen werden oft nicht anerkannt. Berufsbegleitende Qualifizierung hat dabei die schlechtesten Karten. Es besteht nicht das geringste (!) Interesse an der Professionalisierung, sobald man aus dem Ausland kommt. Was der Deutsche nicht kennt, das zertifiziert er nicht. Pädagogische Qualifikation, jahrzehntelange fantastische Ergebnisse mit Studierenden aus aller Welt – all das interessiert niemanden. Deine gesamte Lebensleistung wird beim Betreten deutschen Bodens vom Bulldozer deutscher Ämter nullifiziert. Die meisten von uns fallen verständlicherweise in eine Im-Land-in-dem-wir-gut-und-gerne-leben Depression. Erst nach und nach erkennen wir, dass unsere metakontextualen und ubiquitären Kompetenzen in Deutschland genauso gut funktionieren wie außerhalb Europas. Wir müssen unsere Superpowers neu entdecken. Das braucht eine Weile. So schaffte ich es von Hartz IV bis zu meinem Job an der Universität Oldenburg und als Expertin in eine Arbeitsgruppe der EU-Kommission innerhalb eines Jahres. Eine innere Stimme sagt mir: Don’t you worry – You still have what it takes! Und nein, es waren nicht irgendwelche bescheuerten Future-21st Century-4 K Skills, die mir die Power gaben. Aber das in einem späteren Blogbeitrag.


War Deutschland nun meine wiedergefundene Heimat?

Das Deutschland, dass ich vor 30 Jahren verließ, hatte sehr wenig mit dem Deutschland zu tun, in dem ich angekommen war. So vieles hatte sich verändert. Das Bildungssystem war, verglichen mit den 80ern, natürlich großartig den Bach runter gegangen. Aber es gibt auch positive Entwicklungen. Deutschland war bunter und diverser. Jeder Stadtteil hatte sein eigenes Flair, die kulturellen Szenen oder die Musik hatten sich unglaublich vielfältig entwickelt.

Dadurch, dass es zu mittlerweile viele MigrantInnen gibt, erinnert mich Deutschland ansatzweise an die multikulturellen Gesellschaften Asiens. Das fand ich eine große Erleichterung, besonders gegenüber einigen Konservativen, die ‚Multikulti‘ als Schimpfwort verwenden und von einer rückwärtsgewandten ‚Leitkultur‘ träumen, die sie anderen Menschen aufdrücken möchten. Aber schaut euch doch um: Ein Politiker wie Cem Özdemir ist schwäbischer als die Schwaben. Nelson Müller ist ein großartiger Koch und Gastronom deutscher Küche. Und maiLab rocks! In fact: Multikulti rocks! Ich liebe dieses bunte neue Deutschland.

Nein, einfach war die Rückkehr nicht. Kulturell kam ich lange nicht klar. Manchmal lag ich nächtelang in Tränen. Ich passte nicht rein, hatte keine Wurzeln hier, war von meinem Wesen zu anders.  Mich schockte die Aggressivität in den Medien, der Umgang der Menschen untereinander, die Freundlosigkeit in vielen Gesichtern, ebenso wie aggressive Autofahrer oder Pöbeleien in der Öffentlichkeit. Ich vermisste den Respekt, die Höflichkeit, die liebende Wertschätzung, das freundliche Lächeln, die Leichtigkeit und positive Grundhaltung zum Leben, die ich aus Asien kannte. Konfrontativer Umgang scheint in Deutschland die Norm. Und wie gehst Du mit Neonazi Nachbarn um? Sind aggressive Kinder, die ihren Eltern dauernd Kontra geben, der Standard? Warum konnten Politiker während der Covid Krise mit dubiosen Deals Millionen Euro Gewinn einstreichen, ohne dass diese zumindest ehrenhaft zurücktraten und die Öffentlichkeit um Verzeihung baten? 1000 Fragen. Deutschland tickt anders.

Oft kam ich sprachlich nicht mit. Mein teilweise englischer Satzbau (ich wurde nicht selten gefragt ‚Kommen sie aus Luxemburg?‘) und meine manchmal unbeholfene Wortwahl fallen mir auf. Oder wenn an der Uni alle vom ‚Mittelbau‘ redeten. Ich wollte keinen dummen Eindruck machen, fragte mich was alle denn meinten, und suchte nach dem Meeting auf dem Lageplan vergeblich den ‚Mittelbau‘. Lag der irgendwo zwischen Gebäudekomplex A oder B?  Ich war wirklich oft total daneben, halt nicht im Loop.

Mit tollen, lieben wie aufgeweckten KollegInnen bauten wir die Medienfaktur an der Uni Oldenburg auf, eine kleine Rebellengruppe, die sich einem sozial progressiven und kreativ-technologischen Bildungsideal verschrieben hatte, das wir ‚Social Making‘ nannten. Bis heute bieten wir im Professionalisierungs Bereich unser Seminar an, das berühmte PB-380.

Eine großartige ehrenamtliche Mitarbeiterin, Janett Kloß aus Berlin, die ich bis heute nicht ein einziges Mal live kennengerlernt hatte (hopefully one day) und nur aus unseren Videokonferenzen kenne, hilft mir seit vielen Semestern beim Co-Teaching. Janett hat als Sprachlehrerin ebenfalls eine wunderschön internationale Biografie, von Südafrika bis nach Asien, und ich habe oft das Gefühl, dass Menschen mit interkultureller Erfahrung sich schnell erkennen. Die neue deutsche Heimat der Weltenbummler.

Als Programmdirektorin für Multimedia Design und Visuelle Kommunikation in Thailand

Nachdem die Kultusministerkonferenz mir durch die Nichtanerkennung meines englischen Studienabschlusses im Dezember 2020 signalisierte, dass ich nicht gut genug für das System war (meint hier: erst mal monatelange Depression, hatte aber eine wundervolle Psychologin), passierte 2021 ein verspätetes Wunder. Wie zu meiner Jugendzeit beschloss ich, mein Leben in die eigene Hand zu nehmen und nicht auf die deutsche Bürokratie zu vertrauen. Mit fantastischen KollegInnen aus der Uni planen wir seit einigen Monaten ein Software Startup. Mit einigem Glück und harter Arbeit entwickeln wir als Team das ‘next big thing’. Die allerbeste Entscheidung! Auch meine Studierenden profitieren davon. Sie dürfen die Köpfe weiter rausstrecken als der Rest der Republik.

Als Freelancerin begann ich mich neben meinem Uni-Job in einigen Digital- und Bildungsprojekten zu engagieren und lernte dabei viele großartige Menschen kennen, die an einem weltoffenen, zukunftsorientierten und menschlichen Deutschland arbeiten.

Mir wurde diese Tage klar: Ich bin endlich in Deutschland angekommen. Wow! Unbelievable!

An dieser Gegenwartsgrenze endet meine Erzählung. Alle neuesten Entwicklungen belasse ich in der wundervollen Zone der Überraschungen und der unmittelbaren Zukunft. Ich fragte einmal meinen Freund und Komponisten John Sharpley, eher mit einer tiefsinnigen Absicht, ‘What do you think is the sound of the future?‘ Er schmunzelte und antwortete in seiner flotten amerikanischen Art schlagferig: ‘Whatever you hear next!

Heimatsfindung nach einer fast 40-jährigen Reise. Heimat bedeutet für mich Entwicklungsoffenheit, bunte Lebensentwürfe, die Freiheit von Ideologie und die Freude in eine lebendige Gemeinschaft eingeladen und aufgenommen zu werden. Heimat kann für Global Citizens wie uns überall sein, überall, wo wir den Menschen im Menschen erkennen. Es war ein verdammt langer Weg. Auch für Deutschland.


One thought on “Deutschland, meine Heimat: Über eine schrecklich-seltsam-schöne Beziehung

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