Wie viele Zuschauerinnen und Zuschauer hatte mich die Verfilmung der Wannseekonferenz im ZDF, allem voran die brutale Gefühlskälte und vollständige Abwesenheit jeglicher menschlichen Empathie der SS Leute, zutiefst erschüttert. Der trockene dokumentarische Stil des Films hob die Grausamkeit der beteiligten Männer sowie die Kongruenz ihres menschenverachtenden Denkens, ihrer enthumanisiert-funktionalen Sprache mit der von ihnen geplanten Mordmaschinerie ganz besonders hervor. Wie bei allen Erfahrungen, auch wenn ‘nur’ eine TV-Verfilmung, geraten wir in Resonanz mit vergangenen Lernerfahrungen.

So verdanke ich der Universität Oxford einen ganz besonderen Zugang zum Thema. Vor vielen Jahren, als ich an einem Onlinekurs zur Wissenschaftstheorie und Epistemologie teilnahm, war meine Professorin, Dr. Shlomit Harrosh, die u.a. am Schalom Hartman Institut arbeitet. Der Kurs war für Studierende auf Bachelor-Level konzipiert, also theoretisch ein ‘lapidarer’ Einführungskurs. Mir fiel auf, dass viele von diesen Kursen der Universität mit hochkarätigen Professor:innen besetzt war. Der Holocaust und das Phänomen des kollektiven Bösen war ein zentrales Thema von Dr. Harrosh. Durch ihren authentischen und autobiografischen Bezug zum Thema war ich angefeuert tief in das Thema von Rationalität, Irrationalität und der entsprechenden Entwicklung von Wissen einzusteigen. Der Funke sprang über.

Gatekeeper einer motivierten Lernkultur müssen in der Lage sein Menschen zu begeistern, sie abzuholen und mit neuen Lerngemeinschaften zu vernetzen. Als Lernende sind wir zunächst an unserer persönlichen Entwicklung interessiert. Zugleich sind gelingende Lebensprojekte, tiefe persönliche Lernerfahrungen und bedeutsame intellektuelle Beziehungen eine wichtige Voraussetzung dafür, später andere Menschen in der Rolle als Lernbegleiter:innen oder Coaches einbinden zu können. Wir können nur das wirklich weitergeben, indem wir neue Lernerlebnisse schaffen, was wir selbst erhalten haben. Dies gelingt uns umso besser je tiefer wir die Fülle des Lebens ausschöpfen konnten. Das ist die Ebene der Personen.

Systeme haben diesbezüglich leider die monotone Tendenz sich selbst zu replizieren (Luhmann hier), was ihrer Selbsterneuerung oft im Wege steht. Auch bei einigen unserer Studierenden, trotz vieler Semester Pädagogikstudium, finden wir häufig noch ein Vokabular, das aus ‘Arbeitsaufträgen‘, ‘Arbeitsblättern‘, ‘Noten‘, ‘leistungschwachen‘ und ‘leistungsstarken‘ Schüler:innen oder ‘Prüfungsleistungen‘ besteht. Das ist kein Wunder, denn viele (nicht alle) Studierenden hatten bisher nie eine andere Erfahrung machen können. Von der Schule geht es in eine verschulte Uni und danach zurück auf eine Schule. Die wahre Freiheit existiert lediglich in einer Hausarbeit oder sie spiegelt sich dumpf in der Frage in einer Klausur: Autopoiesis par excellence. Die Zukunft des Lernens als Platons Höhlengleichnis.

Gerechterweise muss ich hinzufügen, dass sich fast alle Studierende zutiefst Reformen wünschen und sie die Nase von bürokratischer Bevormundung voll haben. Sie beweisen einen großartigen Spirit und haben sich – um mit der Symbolik der ‘Matrix Trilogie’ zu sprechen – für die rote Pille entschieden. Gemeinsam springen wir jedes Semester ins Kaninchenloch und entdecken neue Möglichkeiten.

Auf der komplexen Ebene moderner Organisationen misslingen Professionalisierungsprogramme vor allem dann, wenn sie oberflächlich auf einer funktionalen bzw. selbst-replizierenden Ebene bleiben und Teilnehmende nicht bei ihren autobiografischen Motiven oder dem Interesse ihrer Gruppe (‚Purpose‘) abgeholt werden. Mühsame Übersetzungsprozesse zwischen Abteilungen derselben Organisation verstärken sich sogar in ihrer Viskosität sobald sich eigenständige Mikro-Lernkulturen (inklusive ihrer kognitiven Vorurteile) bereits ausgebildet und verfestigt haben. Das bringt uns zum Thema der Kooperation.

Vor zwei Semestern, zu Beginn der Coronakrise, luden wir Schulen zu unserem Professionalisierungsprogramm PB-380 an der Universität Oldenburg ein. Wie alle Schulen suchten sie händeringend nach umsetzbaren Konzepten für eine hybride Unterrichtsgestaltung. Dabei fiel unserem Team ein eindeutiges Muster auf: all jene Schulen, die ohne Schwierigkeiten in einem Team zusammenarbeiten konnten, sprinteten voran. Sie entwarfen Leitfäden für Best Practice, formulierten Umsetzungsstrategien und zögerten keine Sekunde konkrete, verbindliche Milestones für die Umsetzung ihrer Konzepte in die Praxis festzulegen. Die berufsbildenden Schulen Buchholz mit zwei jungen, enthusiastischen Schulleiterinnen waren dabei eine ganz besondere Freude. Diejenigen Schulen, die sich in Bezug auf Teamarbeit schwertaten, gerieten hingegen schnell ins Stocken. Unser Résumé war eindeutig.

Leadership bedeutet einen sozialen Wandel wirklich zu wollen sowie die Kompetenz zu besitzen, Menschen zu begeistern um Transformationsprozesse gemeinsam umsetzen zu können. Doch bis zur Entwicklung von Leadership Skills ist es gewöhnlich ein weiter Weg: Wenn wir jung sind, lernen wir die Welt zu entdecken. Wenn wir älter werden, lernen wir unser Leben autonom zu gestalten. Sobald wir erwachsen werden (und das kann unter Umständen sehr früh erfolgen), lernen wir Verantwortung für andere zu übernehmen. Sobald wir in Führungspositionen hineinwachsen lernen wir Systeme zu gestalten, die anderen Menschen helfen ihre Lebensentwürfe zu verwirklichen. Diese natürliche Evolution ineinander verwobener Handlungs- und Reflektionskompetenzen ist für mich die ursprüngliche Definition von sogenannten ‚Future Skills‘: Kreative Fähigkeiten, Teamwork, kritisches Denken oder gute kommunikative Skills sind nicht die Bedingung, sondern das Resultat der intrinsischen Bemühung und Auseinandersetzung auf diesen unterschiedlichen Ebenen persönliche wie kollektive Verantwortung auszuüben.

Technologie spielt insoweit eine Schlüsselrolle, dass Digitalisierung nicht nur bedeutet plötzlich digitale Medien zu verwenden. Auf systemischer Ebene bedeutet Digitalisierung tatsächlich eine Neustrukturierung der Arbeitsorganisation. Dies impliziert ebenfalls, dass notwendigerweise Kompetenzgaps entstehen und verschiedenste Stakeholder (‚Was ist wessen Wirklichkeit?‘) befähigt werden müssen vollkommen neue Organisationsstrukturen zu entwickeln.

Hierbei können, und das kann ein sehr positiver Nebeneffekt sein, alte Fragen neu gestellt werden, etwa: Was für ein Unternehmen wünschen wir uns? Mit welcher Art der Organisation kann ich mich persönlich identifizieren? Wie können wir partizipative Lernprozesse, die auf Empowerment und einem erneuernden Co-Create Ansatz beruhen, stabilisieren und störungs-robust weiterentwickeln?

Solche Fragen gehen weit über Jobbeschreibungen wie ‚Innovation Lead‘ oder ‚Digital Consultant‘ mit entsprechenden ‚Future Skills‘ hinaus. Letztere sind Begriffe, die an der Oberfläche kratzen. Der nächste Schritt in der Evolution der Arbeitswelt 4.0 besteht in der Entwicklung von Lernprozessen, die nicht nur agil die Bedürfnisse von sozialen Stakeholdern adressieren, sondern darüber hinaus in der Lage sind divergierende Organisationsformen von Gruppen zu überbrücken um neue, bedeutsame und effektive Lern- und Organisationsgemeinschaften in Bezug auf einen positiven, systemübergreifenden ‘Social Impact‘ zu entwickeln. Hierzu bedarf es zum Beginn jedes signifikanten Lernprozesses der Superpower des Zuhören-Könnens, feinster phänomenologisch-hermeneutischer Sensibilität.

Carl von Häberlin: Die Weiber von Schorndorf. Öl auf Leinwand, 1866 (Stadtmuseum Schorndorf)

Meinen Fokus auf Prozesse (‚Warum denke ist so, wie ich denke?‘) verdanke ich beispielsweise einem früheren Lehrer meine Gymnasialzeit, Dr. phil. Götz Hübner, dem ich den Prozess-Zugang zu Hölderlin verdanke – sowie Exkurse zu den ‚Schorndorfer Weibern‘ (Googeln lohnt sich, die tolle Geschichte der Barbara Künkelin ist eine Leseminute wert). Große Gedichte wie der ‘Patmos’ beruhen etwa auf einem internen, prozeduralen ‘Tönewechsel’ (für die Philolog:innen unter uns). Basierend auf diesen sehr frühen Inspirationen hinterfragte ich die Welt – nicht wie sie ist, sondern wie sie gemacht wird. Einmal beendete Götz eines unserer Gespräche schlussfolgernd mit:

Wir begreifen uns als endliche Wesen, eingebunden in einen unendlichen Prozess‘.

Solche wundervollen Sätze blieben in meiner Teenagerszeit sofort im Kopf hängen; vergleichbar mit Keith Jarretts phänomenalen ersten Klängen im ‘The Köln Concert’, nur sprachlich. Mir wurde sehr eindrücklich, auch in der kontrastierenden Auseinandersetzung mit Poppers Positivismus oder Skinners Behaviorismus bewusst, dass es in der sozialen Sphäre nicht primär um empirisch-kontrollierbare, standardisierbare mentale Inhalte oder physische Funktionalitäten geht, sondern gelebte, erlebte Freiheiten, um menschliche Erfahrungen, Geschichten und ihre Bedeutung. Jahrzehnte später gesellte sich zu den prägenden persönlichen Begegnungen Howard Barrows hinzu, ein weiterer großer prozessorientierter Gelehrter. Es war ein Privileg. Was kann ich sagen?

Wir alle suchen die Verbindung mit anderen. Uns alle treibt die Sehnsucht, den Menschen im Menschen zu erkennen, ebenso wie – in Resonanz mit anderen – wertgeschätzt zu werden. Wir alle möchten dem menschlichen Zyklus von Leben und Tod kulturelle Würde verleihen und erfreuen uns, wenn wir uns in einer unterstützenden Gemeinschaft eingeladen und aufgehoben wissen. Wie wir es drehen und wenden – der Schlüssel zum ‘Lernen der Zukunft’ liegt in unserer sozialen Vernetzung miteinander, unserer sozialen Verantwortung füreinander und der daraus entstehenden (und erlernten!) Freiheit der offenen Gestaltung von Lebensmöglichkeiten. Soviel mehr wäre zu sagen, oder um mit Hölderlins Worten zu ergänzen – seit ein Gespräch wir sind.

Eine zeitgemäße Lernkultur ist sich bewusst, dass sie vor diesem philosophischen Hintergrund agiert.


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