Eines der größten Güter einer offenen Informationsgesellschaft ist eine pluralistische Deutungshoheit, die durch die Abwägung von Argumenten sowie die unterliegenden, geteilten demokratischen Werte der Gemeinschaft ermöglicht wird. Dem stehen ideologische Erzählungen gegenüber. Für toxische Patriarchen gelingt Kommunikation in dem Moment, in dem sich Opfer schuldig und verantwortlich für ihre eigene Demütigung fühlen.

Wie Demokratien zerbrechen

Ideologisierende Deutungen folgen dagegen einem eingespielten Drehbuch. Ich konnte ein solches Drehbuch während meiner Zeit in Thailand aus der Nähe mitverfolgen. Die Zerstörung der Zivilgesellschaft beginnt gewöhnlich mit Populisten, die das Land spalten. In Thailand waren dies die sogenannten ländlichen Rothemden gegen die königstreuen Gelbhemden und wirtschaftlichen Eliten Bangkoks. Die Rothemden, mit den meisten Anhängern aus verarmten ländlichen Provinzen, wurden vom früheren Premierminister Thaksin Shinawatra und seine Familie, die einige Ähnlichkeit mit der Trump Familie aufwies, radikalisiert. Interne Gegner wurden denunziert, Journalisten wurden gerichtlich verfolgt, wirtschaftliche und politische Eliten verschmolzen. 2014 übernahm das China-zugewandte Militär unter Prayut Chan-o-cha in einem coup d’état die Regierung und verliebte sich in die Macht. Seitdem ist eine Rückkehr zur Demokratie illusorisch geworden. Wie bei den meisten gewalttätigen Umstürzen ging es um Männer mit raumfüllenden Egos und ihr Militär. Kritik an den selbst ernannten Autokraten wird als Hochverrat gehandelt.

Man sollte jedoch nicht dem Trugschluss verfallen, Thailand wäre unfähig zur Demokratie. Es gibt genügend intelligente, engagierte junge Menschen und weltoffene Wirtschaftsvertreter, die jedoch bei einer Scheinwahl nicht die geringsten Chancen hätten. In Russland war Memorial als die älteste und die renommierteste Menschenrechtsorganisation ein gutes Beispiel dafür, dass Russland zu einer internen Demokratie und pluralistischen Zivilgesellschaft fähig ist. Russland braucht diesbezüglich keine Belehrung vom Westen. Es gibt insoweit, auch wenn es eine Weile dauern könnte, Hoffnung für ein demokratisches Post-Putin Russland. Die süffisante Frage von Olaf Scholz an Putin zu seiner beabsichtigten Regierungszeit war bei seinem ersten Besuch eine selten-schöne Spitze.

Thailand 2010: Mein Condo befand sich in Soi Naer Lert, genau im ‘Niemandsland’ zwischen den Militärs und den Rothemden. Als Soldaten Sandsäcke vor meinem Haus aufbauten, packte ich meine Koffer. Ein paar Straßen weiter hörte man Explosionen und vereinzelt Schüsse. Angefangen hatte es mit der Besetzung der Innenstadt durch die Rothemden, nicht unähnlich den Truckern in Kanada. Propaganda und Radikalisierung gingen Hand in Hand. Der lange Abschied von der Demokratie. Nur ca. 50 Meter hinter dem Panzerfahrzeug (links oben, Silom Road) befand sich mein College.

Nützliche Fiktionen eines Autokraten

Putin bestimmt als de facto Alleinherrscher derzeit das Drehbuch und strebt nach einer Deutungshoheit zur Legitimation von Mord, Krieg und Verbrechen. Hier ist eine gängige Fiktion der Geschichte aus Putins Perspektive, die derzeit in deutschen Medien breitgetreten wird:  

Putin sei in Wirklichkeit das Opfer und nicht der Täter. Die NATO hätte Putin seit 1991 böswillig getäuscht. Genschers Statement am 2.2.1990 nach der Wiedervereinigung soll beweisen, wie hinterhältig die NATO trotz seiner Zusagen die Osterweiterung vorantrieb. Putin hätte demzufolge das gute Recht die verlorenen Ostgebiete als Wiederherstellung eines imperialen Russlands zu annektieren. Die NATO soll sich im Gegenzug für ihren ‘Wortbruch’ verantworten. Gerhard Schröders kontrafaktischer Kommentar, dass die Ukraine ihr ‚Säbelrasseln‘ aufgeben solle, spielt Putins Narrativ in die Hände. Der Westen solle sogenannte ‚Pufferstaaten‘ akzeptieren, die sich dazu verpflichten sollen der NATO niemals beizutreten. Im Idealfall sollen, gemäß Putin, alle westlichen Truppen aus Osteuropa abgezogen werden. Nur dies sei ein akzeptabler Kompromiss: Alles oder nichts. Akzeptiert meine Bedingungen oder es gibt Krieg!

In diesem Narrativ geht es nicht nur um dessen faktische Ungereimtheiten, die zurechtgerückt werden müssen. Es geht um eine viel grundsätzlichere Frage. Warum sollte überhaupt einem einzelnen Mann die Deutungshoheit über die Geschichte von Staaten zugesprochen werden, die er nicht besitzt? Wie sehen die baltischen Staaten die derzeitige Situation, oder Finnland und Schweden? Möchte derzeit wirklich jemand in der Haut der Ukraine stecken? Zählt ein irreführendes Genscher Zitat vor über 30 Jahren plötzlich mehr als die Stimme und das Schicksal der gesamten ukrainischen Bevölkerung, inklusive der Krim und der Donbas Region?

Alle Menschen und Länder haben eine Stimme. Putin bestimmt nicht wie andere Menschen zu leben haben. Im Gegenteil, die Besetzung der Krim hat wunderbar illustriert, dass alles, was Putin zu bieten hat ein permanenter Kriegszustand ist. In den von Elend gebeutelten Gebieten russischer Separatisten gibt es weder Waffenruhe, noch Wohlstand, noch Kultur, noch wirtschaftlich-gesellschaftlichen Fortschritt oder Freiheit. Es verwundert daher nicht, dass sich Menschen ein solches Leben nicht wünschen und davon träumen der EU und, falls möglich in der Zukunft, der NATO beizutreten.

Des Kaisers neue Kleider

Wer ist Putin ohne Militär und Geheimdienst? Putin hat seinem eigenen Volk, außer Nationalstolz, kaum etwas zu bieten. Das Pro-Kopf-Einkommen in Russland liegt derzeit knapp unter dem der Türkei. Männer müssen in Russland bis zum 65. Lebensjahr arbeiten, bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 68 Jahren. Kritiker seines Regimes leben in Angst und müssen damit rechnen vom Geheimdienst mit Polonium (Litwinenko) oder Novichok (Navalny … und viele andere) vergiftet zu werden und elend zu sterben. Warum sollte einem solchen zur Demokratie und dem Wohle seines Volkes unfähigen Mann die Interpretation der Geschichte nach 1991 anvertraut werden? Der Reichtum Russlands landet in den Taschen der Oligarchie, die vom Verkauf von Rohstoffen als Haupteinnahmequelle lebt. Putins Umdeutung der Vergangenheit dient funktional der Sanktionierung des mafiösen Staats-und Wirtschaftssystems. Willst Du die Wahrheit über Russland erfahren? Follow the money oder Nordstream 2.

In welchen Geschichten verharren die Männer? Über welche Zukunftsmöglichkeiten können oder wollen sie nicht reden?

Im Jahr 1991 war der Warschauer Pakt vollkommen intakt. Keine Ausweitung nach Osten bedeutete im damaligen Kontext keine Ansprüche auf Gebiete des damaligen Warschauer Pakts zu erheben. Genscher (an dieser Stelle seine vielzitierte Zusage) konnte zudem weder für die Bundesregierung noch für die NATO gültige Aussagen treffen. Gorbatschow, Boris Jelzin wie Putin (mit Gerhard Schröder als damaligen Kanzler) akzeptierten die Osterweiterung der NATO widerstandslos: Putin hatte für mögliche Beschwerden während all dieser Jahre ohne Zweifel Gerhard Schröders Telefonnummer parat. Wie immer geht es um das Gemauschel unter Männerseilschaften – es ging, bis heute, weder um transparente multilaterale Abkommen noch um eine faire Einbeziehung der Stimme früherer Sowjetrepubliken.

Der unterliegende Narrativ bleibt der gleiche, unabhängig von welche Seite man das Problem betrachtet: Wer ist der stärkere Mann? Wer besitzt die größere Handlungskompetenz um den anderen zu übertrumpfen und zu demütigen? Es ging in all der hitzigen diplomatischen Kommunikation stets um Kaffeesatzleserei in der Geschichtdeutung, jedoch nie um positive (geschweige denn gemeinsam gestaltete) Zukunftsmöglichkeiten. Es grenzt in diesem Zusammenhang an ein Wunder, dass die ISS seit 1998 besteht. Die Wissenschaft war offensichtlich der Politik weit voraus.

Die Verfehlungen der USA und der Fakt: Es gibt keinen Vertrag. Es gibt keinen Anspruch.

Die sogenannte Osterweiterung beruhte auf dem Freiheitsbedürfnis früherer Sowjetrepubliken, basierend auf ihren negativen historischen Erfahrungen im Warschauer Pakt, die sie dazu motivierten der NATO beizutreten. In Fairness muss erwähnt werden, dass der Westen, allen voran die USA unter George W. Bush, nicht unschuldig an Russlands Paranoia war.

Als Bush am 1.4.2008 Georgien und der Ukraine die NATO Mitgliedschaft suggerierte, legten Deutschland und Frankreich ihr Veto zur Schadensbegrenzung ein. Für eine genauere Dokumentation dieser Ereignisse empfehle ich die Aufzeichnungen der damaligen Regierungssprecherin vom G.W. Bush, Fiona Hill (hier ihr neuester Kommentar in der NY Times). Auf der anderen Seite hat Russland keinen Anlass sich als Opfer zu stilisieren: der Gang nach Wien zur OSCE stand Russland stets offen. Russland saß jahrzehntelang auf seinen Händen.

Die Tatsache bleibt bestehen, dass es zur sogenannten Osterweiterung, d. h. der freien Entscheidung unabhängiger Staaten zur Wahl ihres Bündnisses, nie einen offiziellen Vertrag gab. Typisches Motiv in den Reden Putins ist sein gekränkter Stolz. Aber eine Behauptung wird nicht deshalb wahr, weil man sie oft genug wiederholt. In der Diplomatie gilt: Sondierungen sind keine Verhandlungen. Verhandlungen sind keine Vereinbarungen und Vereinbarungen sind noch keine Garantien. Es gibt de facto keine vertragliche Grundlage zur sogenannten Osterweiterung.

Was Putin derzeit betreibt ist ein Zurück in die Zeit des Kalten Krieges: weg von der gegenwärtigen multilateralen Friedensordnung und zurück zu Großmachtdenken mit Pufferzonen und aufgeteilten Einflusssphären, in denen große Länder kleineren Ländern vorschreiben dürfen, wie sie sich zu verhalten haben. Es ist ein absurdes Propagandatheater.

Die zukünftige Rolle Deutschlands

Was bedeutet Putins Kaltschnäuzigkeit und Aggression für uns? Russland wird geopolitisch der Juniorpartner Chinas. Die USA werden nicht in der Lage sein Europa zu beschützen und gleichzeitig im Pazifik, Stichwort Taiwan, präsent zu sein. Insoweit wird Deutschland als einer wehrhaften Demokratie eine aktivere Rolle für die Sicherung Europas zukommen. Wir können unsere Geschichte und die zukünftige Sicherheitsarchitektur Europas nicht toxischen Autokraten und eingeschworenen Männerseilschaften überlassen. Und erst recht nicht ihrer Geschichtsdeutung. Die Deutung der Geschichte gehört uns allen.


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