Das Paradigma der Netzwerkgesellschaft (Castells, 1996), das gegenwärtig als eingebettet in einer ‚Kultur der Digitalität‘ (Stalder, 2016) verstanden wird, hat grundlegende Konsequenzen hinsichtlich eines neuer Lernstrukturen in Organisationen zufolge. Während in älteren, eher hierarchischen Organisationen die Wissensorganisation wie die Wissensproduktion auf herrschende Eliten oder Expertenkulturen beschränkt war, finden Lernprozesse in jüngeren, digitalisierten Organisationen als ein Austausch zwischen interdisziplinären Teams statt. Im Folgenden werden entscheidende Faktoren dieses Wandels erörtert.


Die Bedeutungsänderung der Autonomie: Freiheit durch Netwerke, Abhängigkeit durch Netzwerke


Durch die intensive Vernetzung sozialer Akteure auf quasi gleicher Ebene verändert sich die Bedeutung vieler organisationaler Grundbegriffe. Während beispielsweise in einer individualistischen Logik der Begriff der Autonomie generell mit der Einschränkung persönlicher Freiheit durch andere in Verbindung gebracht wird, ist dies in einer Netzwerkgesellschaft nicht mehr möglich. Da soziale Austausch- und
Kommunikationsmöglichkeiten auf kollektiv entwickelten Technologien beruhen, entwickelt sich persönliche Freiheit im Spannungsfeld zwischen neuen, kreativ-vernetzten Lernmöglichkeiten einerseits und der Abhängigkeit von unterliegenden technologischen Architekturen (und den darauf beruhenden Vernetzungsmöglichkeiten) andererseits. Nicht unabhängiger Kompetenzerwerb von anderen, sondern die Fähigkeit sich wechselseitig zur Konstitution persönlicher Freiheiten zu unterstützen prägt insoweit einen zeitgemäßen Autonomiebegriff.

Die Bedeutungsänderung von Autorität


Nicht minder verändert sich der Begriff der Autorität. Autoritäten mit dem Ziel zentraler
Kontrolle (im Sinne eines regelbasierten, funktionalen Ausgestaltens einer Organisation) sind in
vernetzten Kontexten zunehmend nicht mehr in der Lage dynamisch auf die Vielzahl externer
Impulse und Herausforderungen zu antworten. Aus informationstheoretischer Sicht gibt es, vereinfacht gesagt, zu viele Outputs und Informationsquellen in digitalisierten Gesellschaften, denen nur wenige verarbeitende Inputs an der Spitze von Hierarchien als Anknüpfungspunkte zur Verfügung stehen. Während traditionell-hierarchische Autoritäten als robust und stabil galten, da sie Macht und Status notfalls mittels ihrer geschichtlich-materiellen Interpretationshoheit erzwingen konnten, versagen diese in einer divers-vernetzten Gesellschaft aus genau denselben Grund: es ist vornehmlich die Interpretations- und Perspektivenvielfalt, die digitale Kulturen auszeichnet und diese als inhärenten Wert konstituiert.


Der entgegengesetzte Begriff einer agilen Autorität (Baecker, 2022) beruht auf der Prämisse eines zielgerichteten, hochdynamischen Mindsets, das in der Lage ist Entwicklungsprozesse unter ständig ändernden Bedingungen mit multiplen Stakeholdern erfolgreich umzusetzen. Agile Autorität findet ihre Aufgabenbereiche in Heterarchien, d. h. in der Aushandlung soziale-horizontaler Interaktionen zwischen diversen organisationalen Gruppen zur Gestaltung teamübergreifender Prozesse. Durch die komplexe Ausdifferenzierung heterarcher Strukturen (im Gegensatz zu Hierarchien), sind Beteiligte soziale Akteure, zumindest funktional, an der Nachhaltigkeit von Interaktionsketten interessiert. In einer Ökonomie, in der jeder jeden braucht, da alle miteinander vernetzt sind, ermöglichen kooperative Strategien mehr Gestaltungsmöglichkeiten als unilaterale Vorgehensweisen, die pluralistisch-multilaterale Netzwerkstrukturen ignorieren.



Digitale Paradoxien: Kreativität, Ethik und der monopolisierende Netzwerk Effekt


Der Ansatz diversifizierender Netzwerke kann jedoch im Falle digitaler Monopole außer
Kraft gesetzt werden. Der Netzwerk Effekt besagt, dass der Nutzen eines datenbasierten Gutes
oder Dienstleistung bei steigenden Nutzerzahlen zunimmt. Dies hat zur paradoxen Entwicklung
der Network Economics geführt, dass trotz eines schier unendlich kreativen und diversen
Internets in zentralen ökonomischen Bereichen nur wenige Markführer dominieren (siehe Katz & Shapiro,1985, 1986; Shapiro, 1999). Darüber hinaus verweben neue Technologien wirtschaftliche mit politischen Interessen.


Die technologische Vernetzung wirtschaftlicher und politische Strukturen


Die gegenwärtige Schockerfahrung westlicher Gesellschaften und ihrer Ökonomien besteht zum
einen darin, dass eine Weltmacht wie China digitalen Nationalismus und wirtschaftlichen
Wohlstand (Thiebault, 2011) in Abwesenheit von Demokratie, Bürger- und Menschenrechten
oder einer freie Presse zu gestalten vermag (Cinnamon, 2017; Qiang, 2019; Svensson, 2017),
zum anderen, dass Skandale wie Cambridge Analytica (Richterich, 2018) eindrücklich die neue
Dimension politisch manipulativer Prozesse im digitalen Zeitalter illustrierten.
Da Menschen ihre Entscheidungen auf Grund von Informationen fällen, haben sich digitale
Plattformen zu neuen Foren der Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit (Wimmer, 2007) in der
Mediengesellschaft etabliert. Hierbei kommt der Monopolisierung digitaler Großkonzerne eine
besondere Bedeutung zu (Dolata, 2015). Im gleichen Zuge haben sich autoritär-populistische
Bewegungen erfolgreich im Internet etabliert (Norris & Inglehart, 2019; Pajnik & Sauer, 2018)
und widerlegen die These, dass neue Kommunikationstechnologien und ethischer Fortschritt
notwendigerweise miteinander korrelieren.

Felix Stalder (2016) beschreibt letztere Entwicklung unter dem Begriff der Postdemokratie als
(…) all jene Entwicklungen – gleich wo sie stattfinden –, die zwar die Beteiligungsmöglichkeiten
bewahren oder gar neue schaffen, zugleich aber Entscheidungskapazitäten auf Ebenen stärken,
auf denen Mitbestimmung ausgeschlossen ist
“ (Stalder, S. 209)
Digitaler Kompetenzerwerb besitzt somit eine politisch-gestaltende Dimension, d.h. wie wir als
Privatpersonen in digitalen Räumen agieren kann nicht unabhängig von der Frage thematisiert
werden, welche prozeduralen Partizipationsmöglichkeiten und Machtstrukturen systemisch-
verwalteter Kommunikation jeweiligen Diskursen zugrunde liegt.

Einer ethischen und professionellen Positionierung zu dieser Thematik kann ein agiles Leadership daher nicht entrinnen. Es stellt sich die Frage, welches positive sozio-digitale Freiheitsverständnis, etwa in der Form des Empowerments multipler Stakeholder bzw. Philosophien sozialwirtschaftlicher CoCreation, ökonomischen Aktivitäten einer Netzwerkgemeinschaft zugrunde liegt.

Neue Beziehungsgeflechte des Lernens


Netzwerkstrukturen sind von ihrer Natur robuster gegenüber externen Störungen als hierarchische Strukturen insoweit verschiedene Funktionseinheiten (im Gegensatz zur regelbasierten Top-Down Architekturen mit klaren, vordefinierten Kommunikationsstrukturen) im Notfall dieselben systemrelevanten Aufgaben übernehmen können. Sie sind von ihrer Natur aus jedoch störanfälliger insoweit dysfunktionale oder langwierige Abstimmungsprozesse innerhalb von Teams die Erledigung systemübergreifender Aufgaben verhindert oder verlangsamt.

Daniel Kahnemans Konzept intuitiv-schneller Systeme (System 1) kombiniert mit reflektierend-langsameren Systemen (System 2) in seinem Buch Thinking Fast and Slow (2011) passt als gute Analogie, wie vielfältig organisationale Entwicklung in ihrem Kern sowie an ihren Schnittstellen ausgebildet werden kann um eine dynamische Agilität zu entwickeln. Voraussetzung für zielführende Lernprozesse innerhalb von Netzwerken ist in diesem Sinne eine qualitativ hochentwickelte Abstimmung der Prozesse zwischen Teams sowie deren flexible Einbettung in systemübergreifende soziale Interaktionsketten.

Agiles digitales Leadership ist in der Lage beide erwähnten parallel-laufenden Perspektiven (von innen nach außen und von außen nach innen) als wechselseitige Erwartungshorizonte in autonome Handlungsoptionen eingebundener Teams zu übersetzen. Baecker (2022) spricht in diesem doppelt-verspiegelten Setting vorgeschalteter Feedbackoptionen treffend von Erwartungs-Erwartungen.

Hypercluster: Netzwerke innerhalb von Netzwerken


Der Begriff Hypercluster bezeichnet die fast rekursive Organisation von Netzwerken innerhalb von Netzwerken. Dabei geht es jedoch nicht um quasi mandelbrotartige, sich selbst replizierende Strukturen, die auf jeder Ebene identisch erscheinen, insoweit wir es mit funktional hochgradig spezialisierten Wertschöpfungsketten zu tun haben. Der Begriff der Wertschöpfungskette, sowie deren formaler Anfang und Ende, spielen bei der Frage robuster Verknüpfungspunkte eine zentrale Rolle.

Denn bei genauerem Hinsehen erweist sich ein blinder Fleck in der Philosophie des New Work, welches die sinnhafte Gestaltung des Alltags von Arbeitsnehmenden fordert. Partizipative Strukturen innerhalb einer Organisation können letztlich nur dann nachhaltig gestaltet werden, wenn ihnen vor- und nachliegende (idealerweise robuste) Wertschöpfungsketten zuarbeiten. Diese Annahme gilt freilich nur unter der Minimalbedingung, dass der Begriff der Wertschöpfung inklusive der eigenen sozialen Wertschöpfung aller am wirtschaftlichen Prozess Beteiligten verstanden wird.


Der exponential steigende Kommunikationsbedarf in Hypercluster-Strukturen hat des Weiteren
eine Umorientierung vom Wissensmanagement zur gemeinschaftlichen Organisation von
Lernprozessen zur Folge, da die Vielfalt der biographischen Narrative und Partikularinteressen
von Mitarbeitenden in modernen pluralistischen Gesellschaften nicht mehr sinnhaft, d.h. vor
dem Hintergrund gemeinschaftlich-entwickelnder Verständigungshorizonte, in vorproduzierte
Weiterbildungsangebote eines Up- and Reskilling eingebettet werden können.


Literatur


Baecker, D. (10.2.22) Postheroisches Management und agiles Leadership [Online Vortrag für den BDU, Bereich Personalentwicklung]
Cinnamon, J. (2017). Social injustice in surveillance capitalism. Surveillance & Society, 15(5),
609-625. Retrieved from https://search.proquest.com/docview/1991088392?accountid=12968
Dolata, U. (2015). Volatile Monopole. Konzentration, Konkurrenz und Innovationsstrategien der Internetkonzerne. Berliner Journal Für Soziologie, 24(4), 505-529. doi:http://dx.doi.org/10.1007/s11609-014-0261-8
Qiang, X. (2019). The road to digital unfreedom: President xi’s surveillance state. Journal of Democracy, 30(1), 53-67. doi:http://dx.doi.org/10.1353/jod.2019.0004
Kahneman, D.(2011). Thinking Fast and Slow. Anchor Canada.
Katz, Michael & Shapiro, Carl (1985), “Network Externalities, Competition, Compatibility”, American Economic Review, 75(3), June, 424-440.
Katz, Michael & Shapiro, Carl (1986), “Technology Adoption In the Presence of Network Externalities”, Journal of Political Economy, 94, 822-841
Pajnik, M., & Sauer, B. (2018). Populism and the Web: Communicative practices of parties and movements in Europe. Abingdon, Oxon: Routledge
Richterich, A. (2018). HOW DATA-DRIVEN RESEARCH FUELLED THE CAMBRIDGE ANALYTICA CONTROVERSY. Partecipazione e Conflitto, 11(2), 528.
Shapiro, Carl. (1999). Information rules: a strategic guide to the network economy. Varian, Hal R. Boston, Mass.: Harvard Business School Press
Svensson, M. (2017). The rise and fall of investigative journalism in china: Digital opportunities and political challenges. Media, Culture & Society, 39(3), 440-445. doi:http://dx.doi.org/10.1177/0163443717690820
Stalder, F. (2017). Kultur der Digitalität. Berlin: Suhrkamp
Thiebault, J. (2011). Emerging economies or emerging markets: Economic development with or without democracy. Revue Internationale De Politique Comparee, 18(1), 9-52. doi:http://dx.doi.org/10.3917/ripc.181.0009
Wimmer, J. (2007). (Gegen-) Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft: Analyse eines medialen Spannungsverhältnisses. Wiesbaden: VS, Verlag für Sozialwissenschaften.

Picture credit; Note Thanun


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