Verortung: Wo bleibt der Mensch in einer zunehmend automatisierten Welt?
Dieser Blogeintrag etabliert Albert Banduras Konzept einer akteurbezogenen Psychologie als einen zeitgemäßen Bildungsansatz, der einen sozialkonstruktivistischen Ansatz erweitert und zugleich in ein konnektivistisches Verständnisses menschlichen Lernens (Siemens, 2005) integriert werden kann.
Für den von Bandura verwendeten Begriff einer ‚agentic perspective‘, der sich auf die Selbstwirksamkeitserfahrungen und Selbstkonstitutionskompetenzen von Menschen bezieht, gibt es keine hundertprozentige deutsche Entsprechung. Bandura expliziert zur Bedeutung einer ‚agentic perspective‘: ‚In this conception, people are self-organizing, proactive, self-regulationg, and self-reflecting. They are contributors to their life, not just products of them. ‘(Pajares & Urdan, 2007, S.3).
Bandura unterscheidet zwischen individuellen, kollektiven sowie Proxy-Modi von ‚agency‘. Im letzteren Modus suchen Menschen indirekte Repräsentation oder werden durch externe Organisation vertreten. Diese weitgehende Interpretation schließt soziale Netzwerke (inklusive ihrer unterliegenden Algorithmen) als digitale Erweiterungen menschlicher Interaktion mit ein. Entscheidend ist nach Bandura die Entwicklung all jener Eigenschaften, die uns zu Menschen machen und, im Zeitalter von KI, von Maschinen unterscheiden. Darunter finden sich intensionality, forethought, self-reflection und self-regulation (Bandura, 2006). Wir finden ähnliche Ansätze bei Carol Dweck für die Entwicklung eines ‚growth mindset‘ (1998), in der Self-Determination Theory (SDT) in Bezug zu intrinsischer Motivation (Deci & Ryan, 2000, 2012) oder der Forschung zu metakognitiven Kompetenzen in sozialen Kontexten (Briñol & DeMarree, 2012). Kurioserweise werden in den öffentlichen Debatten keine der erwähnten wissenschaftlich-etablierten Kriterien als ‚Future Skills‘ thematisiert.
Eine Erweiterung konstruktivistischer Bildungsphilosophien: Die kleine Frage des autobiografischen und lebensweltlichen Bezugs
Im deutschsprachigen Raum haben Gerstenmaier und Mandl (1995) zum ‚Wissenserwerb unter konstruktivistischer Perspektive‘ maßgebende Studien zusammengeführt. Den Autoren zufolge zeichnet sich die konstruktivistische Perspektive durch situierte Kognition, persönliche wie soziale Epistemologien und konzeptionelle Kompetenz aus, insbesondere hinsichtlich der Authentizität und Situiertheit von Problemen, dem Einbezug multipler Kontexte, Perspektiven sowie sozialer Kontexte.
Sie heben hinsichtlich der Offenheit ihres Ansatzes hervor: ‚Neue Inhalte dürfen nicht als fertiges System bzw. als Welt abgeschlossener Erkenntnisse präsentiert werden. Der Lernende muß vielmehr die reale Möglichkeit haben, eigene Wissenskonstruktionen und Interpretationen vorzunehmen sowie eigene Erfahrungen zu machen.‘ (S.879)
Abschließend favorisieren Gerstenmaier und Mandl die Position von John Dewey, d.h. eine Pädagogik des aktiv handelnden, selbstgesteuerten wie selbstreflektierenden Subjekts. Die Anschlussfähigkeit zu Bandura ist unübersehbar. Aus ‚Facilitators‘ zur Lösung externer Probleme werden ‚Coaches‘ für die Zusammenführung von individuellen mit kollektiv-geteilten Perspektiven und Kompetenzen. Die empathisch-verstehende Verbindung von Lehrenden mit Lernenden spielt plötzlich eine zentrale Rolle für das Gelingen von Bildungspozessen – ein Umstand, der in der gegenwärtigen Leadership-Debatte mit Begriffen wie purpose‚ sensemaking, relating oder visioning (creating a compelling picture of the future) umschrieben wird (Harvard Business Review, 2007).
Das Konzept eines aktiven, akteurbasierten Lernens impliziert, dass lernende Subjekte nicht nur als aktiv Lernende, sondern weitergehend (im Sinne Banduras) als autobiographische, ihr Leben gestaltende Subjekte zu verstehen sind. Speziell in der Herausforderung der zunehmenden Heterogenität bzw. Diversifizierung von Bildungs- und Berufswelten lassen sich autobiografische Motivation und Bedeutungsgenese nicht mehr von scheinbar objektiv-präsentierten Problemen oder Herausforderungen trennen. Bedeutung entsteht für Lernende nicht automatisch indem sie an Projekten aktiv partizipieren, sondern vielmehr darin, dass formale Lernprozesse zur Gestaltung ihrer autobiografisch-verorteten wie begründeten Lebenszusammenhänge erkennbar beitragen: No participation without co-creation. Lernziele werden im Spannungsfeld von bestehenden Systemen und gesellschaftlichen Möglichkeitsräumen gemeinsam erschlossen, vereinbart, aber nicht mehr diktiert.
Der Fortschritt des Konstruktivismus lag in der Verschiebung des Fokus von Lerninhalten mit standadisierten Leistungsabfragen hin zu dynamischen Lernprozessen mit formativen Ünterstützungsschleifen. Lernen kann nur handelnd, in der aktiven Auseinandersetzung mit der natürlichen und der sozialen Welt gelingen. Es geht im Konstruktivismus um den Erwerb von Kompetenzen, nicht um die Replikation reiner Wissensinhalte wie wir es aus der Bloomschen Taxonomie kennen. Zeitgemäße Lernprozesse finden mittlerweile ausschließlich unter der Annahme einer bidirektionalen Verbindung mit allen am Lernprozess Beteiligten statt, insoweit Teilnehmende eine Rückmeldung bzw. Feedback zu ihrer individuellen wie gruppenbezogenen Lernfortschritten erwarten.
In dem Moment, in dem sich soziale Abhängigkeitsverhältnisse auflösen (etwa die Abhängigkeit von formalen Bildungsabschlüssen oder Arbeitgebern), gehen vielen Systemen diese Tage buchstäblich die AkteurInnen aus. Die Ökonomie des Lernens, inklusive des Erlernens traditioneller Rollen, wird in Modellen rund um New Work semantisch neu besetzt.
So möchten viele junge Leute beispielsweise nicht mehr für Unternehmen arbeiten, die keinen gesellschaftlichen Beitrag leisten, ebenso wenig wie für Bosse, deren Autorität auf althergebrachten Machtansprüchen, Seilschaften und Privilegien beruht. Überhaupt, wie es in einem vieldiskutierten Artikel in der Süddeutschen Zeitung hieß: Keiner will mehr Boss sein. Es gibt kein richtiges Lernen im falschen.
Nicht nur spielen die Authentizität und Aktualität von Lerninhalten eine entscheidende Rolle, sondern gleichfalls die Authentizität und demokratische Legitimation formaler Lernsettings. Zur historisch-kritischen Einordnung sei erwähnt, dass das hier vorgestellte Konzept autobiografisch-gleichberechtigter AkteurInnen über die Praxis und das Verständnis von John Dewey, der als ‚Vater‘ der Demokratiepädagogik gilt, hinausgeht (siehe hierzu Knoll, 2018).
Eine Einordnung des Konnektivismus: Going beyond Medienkritik
Der Konnektivismus (Siemens, 2005) hatte von jeher ein Problem als Lerntheorie anerkannt zu werden insoweit (a) reine Vernetzung weder zwingend (selbst unter der Voraussetzung autonom Lernender) neues Wissen produziert noch (b) den Kompetenzerwerb von Akteuren innerhalb von Netzwerken, etwa im Online Learning, zufriedenstellend erklären kann. Analoge wie digital-basierte Lernprozesse können erschöpfend innerhalb bestehender Theorien subsumiert werden.
Das frische Argument besteht für den Konnektivismus m.E. darin, dass sich die technologischen Grundlagen zeitgenössischen Lernens zu einer conditio-sine-qua-non erweiterter sozialer Interaktion weiterentwickelt haben. Damit sind sie als algorithmischen Rahmenbedingungen ebenso diskussions- und kritikwürdig wie die zuvor erwähnten analogen Macht- und Privilegien-erhaltenden Settings. Mehr noch: die Gestaltung sozio-digitaler Räume und ihrer unterliegenden Spielregeln wird selbst zu einem medienkritischen wie gemeinschaftskonstituierenden Thema, welches von bestehenden Lerntheorien innerhalb einer ‚Kultur der Digitalität‘ (Stalder) nicht abgedeckt wird. Persönliche und soziale Freiheiten werden durch kollektive digitale Infrastrukturen zugleich begrenzt wie ermöglicht – eine symbiotische, reziproke Beziehung.
Schlussfolgerung: Co-Creation and Social Making, aber wohl nicht für alle
Mit der technologischen und kulturellen Diversifizierung pluralistischer Gesellschaften lassen sich Bildungsprozesse nicht mehr unabhängig von den Lebensprojekten ihrer Teilnehmenden konstituieren. Bildung entwickelt sich nicht ausschließlich auf individueller, persönlicher Ebene, sondern erweitert sich (a) auf der Ebene von Systemgestaltungskompetenzen (als Bedingung organisational-verbundener Lebensgestaltung) sowie, (b) darüberhinausgehend, auf der Ebene der Entwicklung lernender Organisationen (als Bedingung der Möglichkeit transformatorisch-systemischer Kompetenzen, ohne die es keine nachhaltige Entwicklung geben kann).
Insoweit beide Ebenen in Feedback-Schleifen zur Entwicklung erfolgreicher autobiografisch-persönlicher Entwicklung eingebunden sind, plädiere ich für eine akteurbezogene Bildungsphilosophie aktiver, bedeutungsstiftender Handlungssequenzen: Wer lernt wie von wem? Was ist wessen Wirklichkeit? Wie konstituieren sich Begründungszusammenhänge? Wie können Lebens- und Lernmöglichkeiten fair ausgehandelt und entwickelt werden? Wie begründen sich die unterliegenden Werte, Normen und Spielregeln von Lernprozessen, implizit wie explizit? Und vor allem: Wie können wir die divergierenden Sozialisationserfahrungen anderer Menschen nicht nur verstehen und tolerieren, sondern diese wertschätzend in unseren persönlichen Lebensentwurf integrieren?
Um diese Fragen beantworten zu können, müssen Lernsettings nicht nur ein aktives Lernen fördern können. Sie müssen sich darüber hinaus zu kollaborativen Aushandlungs- und Gestaltungsräumen erwünschter Lebensentwürfe entwickeln; in Prozessen eines Social Making. Mit meinem Kollegen, Dr. Michael Viertel definierten wir Social Making im folgenden Kontext:
‘Die Idee einer planbaren digitalen Bildungsrevolution, welche lediglich die technischen Optionen für die digitale Manifestierung der meritokratischen Fantasievorstellung einer leistungsgerechten Chancengleichheit in den bestehenden Bildungsinstitutionen und Verhältnissen auslotet, muss scheitern. Vor diesem Hintergrund möchten wie den Fokus konkret auf die Frage lenken, wie solche sozialen Räume und Settings gestaltet werden können, in denen Kooperation-, Kritikfähigkeit sowie ein unkonventionelles, kreatives Denken evoziert und gefördert werden.
Unsere Erfahrungen haben gezeigt, dass der Schlüssel hierfür in der verantworteten Gestaltung eines sozialen Settings liegt. Dies gilt für Seminare, Unterricht, Fort- und Weiterbildung bis hin zur Strategieentwicklung von Abteilungen und Unternehmen. New Learning und New Work sind in einer digitalisierten Gesellschaft 4.0 intrinsisch miteinander verbunden. Wir sind der Überzeugung, dass durch Ansätze des Design Thinking und der Co-Creation ein partizipativ-emanzipatorischer Kulturwandel durch Bildung eröffnet werden kann. Diesen Prozess bezeichnen wir als Social Making.’ (Kompa & Viertel, 2021, aus: Mission und Vision Statement Medienfaktur)
Durch die hohen bürokratischen Hürden zur Anerkennung und dem Einbezug unkonventioneller, interdisziplinärer und informeller (non-formaler) autobiografischer Lernportfolios in der Aus- und Weiterbildung, aber auch dem Festhalten an systemischen Machtansprüchen, bleiben Organisationen mit hierarchischen und bürokratisch-starren Strukturen außen vor. Die Schere zwischen traditionell-verorteten und modern-agilen Unternehmen und Organisationen wird sich voraussichtlich weiter öffnen.
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Picture Credit: Clay Banks, Unsplash
Literatur
Bandura, A. (2006). Toward a Psychology of Human Agency. Perspectives on Psychological Science, (2). 164.
Briñol, P., & DeMarree, K. G. (2012). Social metacognition. New York, NY: Psychology Press.
Deci, E. L., & Ryan, R. M. (2000). The ‘what’ and ‘why’ of goal pursuits: Human needs and the self-determination of behavior. Psychological Inquiry, 11, 227-268.
Dweck, C. S. (2013). Self-theories. [electronic book]: Their Role in Motivation, Personality, and Development. Hoboken : Taylor and Francis
Deci, E. L., & Ryan, R. M. (2012). Motivation, personality, and development within embedded social contexts: An overview of self-determination theory. In R. M. Ryan (Ed.), Oxford handbook of human motivation (pp. 85-107). Oxford, UK: Oxford University Press. doi: 10.1093/oxfordhb/9780195399820.001.0001
Gerstenmaier, J. & Mandl, H. (1995). Wissenserwerb unter konstruktivistischer Perspektive. Zeitschrift für Pädagogik 41 (1995) 6, S. 867-888
HBR, Ancona et al. (Februray, 2007). URL: https://hbr.org/2007/02/in-praise-of-the-incomplete-leader
Knoll, M. (2018). Anders als gedacht. John Deweys Erziehung zur Demokratie. Zeitschrift für Pädagogik 64 (2018) 5, S. 700-718, URL: https://www.pedocs.de/volltexte/2021/22170/pdf/ZfPaed_2018_5_Knoll_Anders_als_gedacht.pdf
Pajares, F., & Urdan, T. C. (2007). Self-efficacy beliefs of adolescents. Greenwich (Conn.): Information age
Siemens, G. (2006). Knowing knowledge. Winnipeg, Manitoba