Als Kind hatte ich die wiederkehrende Vorstellung, dass alle Menschen einen Faden hinter sich herziehen. Je länger sie leben, desto verworrener wird ihre Situation. Einige Menschen weben fantastische Muster mit anderen, andere verheddern sich, einige verlieren den Faden. Was passiert mit uns, den Bekanntschaften in unserem Leben?
Anne. Sommer 86 in Tübingen. Meine Crew sitzt draußen vor der Uni, darunter eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte, um die 30, elegant und attraktiv. Sie ist keine Studentin, denke ich. Das war Anne. Sie war mit einem brasilianischen Multimillionär verheiratet. Rinderherden. Sie wachte eines Tages auf und sagte sich ‚Ich bin im falschen Film‘. Packte Geld zusammen, mietete sich einen Cadillac, mit dem sie quer durch die USA fuhr. Viel Champagner, bis sie abgebrannt war. Was macht man in einer solchen Situation? Klar, sich an der Uni Tübingen einschreiben. Ein bisschen hatte ich mich schon verliebt. Später jobbten wir zusammen in einer Fabrik um Geld fürs Studium zu verdienen. Nach meinem Vorsatz in Asien eine neue Zukunft zu suchen, verlierte sich unser Kontakt. Verlorene Fäden.
Jules. Ruhrgebiet 2021. Jules ist der einzige funktionale Analphabet, den ich kenne. Er war sein Leben lang ein erfolgreicher Schweißer gewesen und lebt nun von Sozialhilfe. Kleines Zimmer, E-Gitarre, viel Zigaretten. Er fragte mich, ob ich ihm von meinem Handy seinen Lieblingssong von Led Zeppelin abspielen kann. Ja klar. Eine herzliche ältere Frau hilft ihm beim Ausfüllen der Formulare für das Arbeits- und Sozialamt. Er erzählt mir von seinen Träumen, in denen ein riesengroßer Hase vorkommt und ein Stacheldraht. Er präsentiert stolz seine Zeichnungen, die genausogut von einem LSD Trip stammen könnten, Jules aber noch nie geteilt hatte. Es war ein Vertrauensbeweis. Wie viele Menschen wie Jules gibt es? Ein liebenswürdig-skurriler loser Faden ohne Anschluss.
Ma und Pa. Deutschland. Mein Vater startete ursprünglich im Bergbau, unter Tage als Steiger, machte danach seinen Dipl-Ing, und entwarf Jahrzehnte später innovative Fabrikanlagen. Nach ihrer Scheidung startete meine Mutter ihr eigenes Unternehmen. Ende der Hausfrauenrolle. Meine Mutter musste sich spät im Leben neu erfinden. Jahre später bewies sie sich als äußerst erfolgreiche Geschäftsfrau. Trotz aller Ups und Downs im Leben, entgegen aller Entzweiungen: starke rote Fäden.
Ich könnte hunderte von Fadengeschichten erzählen. Tragische, großartge, traurige, bezaubernde, und inspirierende Geschichten. Und plötzlich sprechen wir von ‚Wirtschaft‘, ‚Systemen‘, ‚Leadership‘ etcetera, als ob es keine Menschen gäbe, die diese Begriffe ausfüllen, und ohne die alles keinen Sinn macht. Die Welt wird nicht einfacher. Im Gegenteil. Nur in der Einladung zur Verbindung, der Aufmerksamkeit für die Lebensfäden anderer, der Respektierung ihres So-Seins, können wir am Webstuhl des Lebens die wundervollsten Muster zaubern.
(*Alle Namen geändert) Bild: Zimbarus