In meinen Gesprächen mit Svetlana und ihrer Familie über Neujahr wurde mir erst richtig bewusst, in welchem Ausmaß wir die Ukraine weder als Volk noch als Nation erst genommen hatten. Wir sprachen über Heimweh, ihre Eltern und Großeltern, die in einem kleinen Ort südlich von Bachmut geblieben sind, über Weinanbau, die ukrainische Küche, die Industrien der Ostukraine und das Leben unter russischer Besatzung.
Mit kamen dazu in den Sinn: der Hitler-Stalin Pakt, der deutsche Russlandfeldzug, unsere Bewunderung für die russische Kultur. Von Tchaikovsky über Stravinsky, Dostojewski zu Tolstoy und vielen anderen. Unser Blick war seit jeher auf Russland gerichtet. Selbst nach der Besetzung der Krim hat Deutschland an Nordstream 2 festgehalten. Und dies obwohl ersichtlich war, dass Nordstream 2 als Waffe gegen die Ukraine von Anfang an geplant war. Es gibt scheinbar keine ernstzunehmenden Völker zwischen Deutschland und Russland. Die Ignoranz klingt unglaublich.
Aber auch: Die Verschleppung von fast zwei Millionen UkrainerInnen während des Zweiten Weltkrieges: Die Frauen kamen in deutsche Bordelle, die Männer und Kinder wurden in die deutsche Kriegsindustrie abkommandiert. Und natürlich die Hinrichtungen ukrainischer Juden durch die SS und Wehrmacht. Deutsche Gaswagen, das stalinistische Holodomor. Ein gebeuteltes Volk, von Babyn bis Bucha.
Und dennoch sind wir nur Zuschauer, für die der Kommentar billig ist. Erst die militärische Intervention durch die Alliierten befreite Deutschland vom nationalsozialistischen Wahn. Von wenigen Ausnahmen abgesehen kämpfte niemand in Deutschland für die Freiheit. Es lag nicht in der kollektiven DNA. Ganz im Gegenteil: Deutschland folgte bis kurz vor seiner Kapitulation lieber einem kleinen rassistischen, cholerischen, drogenabhängigen, psychisch kranken Österreicher mit Dauerflatulenz und schlechten Zähnen. Mit dieser Person identifizierte sich der größte Teil der Deutschen. Einige Unverbesserliche tun es bis heute.
In Katrin Eigendorfs Buch ‚Putins Krieg‘ findet sich das schöne Zitat von Heorhij Konyskyj „Der Mut entsteht, wenn die Hoffnung die Angst überwindet“. Wir Deutschen wundern uns über den Mut der UkrainerInnen. Und es schien ein auswegloser, sinnloser Kampf: David gegen Goliat. Die kleine Ukraine gegen das übermächtige Russland. Wir gaben ihr keine Chance. Ein paar Tage maximal. Deutsche Belletristen sehnten sogar eine rasche Unterwerfung herbei: Gebt doch bitte nach um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden! Was sie nie verstehen konnten war, dass es Menschen gibt, sogar ein ganzes Volk, das bereit ist für seine Freiheit zu sterben. Dieses Konzept ist kein Element unseres historischen Erlebnishorizontes.
Der Kampf gegen Diktatoren war nie eine Selbstverständlichkeit. Auch in Großbritannien gab es in den 30er Jaren unter Premierminister Neville Chamberlain die Ansicht, man könne mit Hitler friedlich koexistieren. Winston Churchill bekam von Lord Halifax im House of Lords ordentlichen Gegenwind. Halifax strebte ein Friedsabkommen mit Hitler an, unterstützt von König George VI. und einflussreichen Persönlichkeiten wie Joseph Kennedy. Ein mögliches Scheitern hing wie ein Damoklesschwert über Churchill. Schon in Dünkirchen hätte der Krieg früh zugunsten der Nationalsozialisten entschieden werden können. Wir möchten uns nicht ausmalen, in welcher Welt wir heute leben würden.
Svetlana konnte ich nur mitteilen, wie sehr ich ihr Volk bewundere.
Es ist Krieg. Er wird noch lange dauern. Moralisch waren wir noch nie Leader und es scheint, das wir es nie werden. Wir sind gefangen in unserer Angst unsere dysfunktionale Wohlstandswelt zu beschädigen und warten auf andere für uns die Kohlen aus dem Feuer zu holen.
Bild: Christopher Furlong