Zum Begriff

Empathisch-organisationale Co-Creation ist ein Arbeitsbegriff, den ich für meinen Fachbereich gewählt habe, weil er die innere Haltung und das Selbstverständnis von Lerndesigner:innen sowie Learning & Development Coaches in Bezug auf unsere tägliche Arbeit am besten beschreibt. Der Begriff einer empathisch-organisationalen Gestaltung sozialer Räume bezieht sich auf zwei grundlegende Kompetenzen unserer Arbeit, die sich untrennbar aufeinander beziehen: (a) die Kompetenz des Empowerments bzw. der Befähigung von Menschen und (b) die Kompetenz des Systemdesigns bzw. der Systemgestaltungskompetenz.

Die Pragmatische Komponente: Handlung, Bedeutung und Erfahrung

Als philosophische Strömung geht der Pragmatismus auf Vertreter wie Charles Sanders Peirce, George Herbert Mead und John Dewey zurück und teilt mit uns folgende Intuitionen: 

In sozialen Kontexten realisieren sich Menschen durch ihre Interaktionen, ihre sozialen Handlungen, insbesondere ihre sprachlichen Handlungen. Der Begriff der Handlung schließt auch die Unterlassung, die bewusste Verweigerung oder den Verzicht auf Handlung ein, gemäß dem ersten Axiom von Paul Watzlawick, dass wir nicht nicht kommunizieren können. Im Mittelpunkt unseres Interesses stehen die praktischen Auswirkungen und Folgen von Handlungen und Nichthandlungen, wie z.B. die direkten und indirekten Auswirkungen von Interventionen oder von sozialer Gestaltung.

Es ist der aktiv handelnde Mensch, der durch seine Interaktion mit der Welt und mit anderen informative Rückkopplungsschleifen erzeugt. Entscheidend ist dabei die Bedeutung, die aus den handlungsinitiierten Erfahrungsschleifen entsteht: Wir handeln, weil wir Erfahrungen bestimmte Bedeutungen zuschreiben, die wiederum unsere motivationalen Grundlagen konstituieren. Dies betrifft insbesondere die Erfahrung persönlicher Beziehungen, die Erfahrung von Gemeinschaft, die Erfahrung des Arbeitens und Lernens in Systemen sowie die Integration von autobiographischer und organisationaler Lebenswelt.

Soweit Handlungen praktische Folgen haben (z.Bsp. positiv als Erfolg oder Fortschritt), sind diese empirisch messbar, d.h. eine pragmatische, an der sozialen Praxis orientierte, handlungsorientierte Haltung ist wissenschaftlich begründbar, z.B. im qualitativ-quantitativ messbaren Unterschied der Prozessphasen vor und nach einer Intervention in einem Pre-Post Design. Dem Pragmatismus liegt die marxistische Intuition nahe, dass es nicht so sehr darauf ankommt die Welt zu erklären, sondern sie zu verändern. Als handlungsfähige Wesen sind wir potentielle ‚agents of change‘, analog zu Kants Verständnis des Menschen als Vernunftwesen durch seine Bestimmung zur Freiheit.

Der logische Weg vom Pragmatismus zum Konstruktivismus

Insofern sich Erfahrungen zu inneren Haltungen und Mindsets als latenten Handlungs- und Orientierungsdispositionen verdichten, wird spätestens an dieser Stelle deutlich, dass ein rein pragmatischer Ansatz ohne die Voraussetzung der Konstruktion neuer mentaler Modelle nicht funktionieren kann und auch nicht denkbar ist. Das Verständnis reiner Praxisschleifen allein reicht nicht aus, um Veränderungsprozesse zu erklären und zu verstehen. Denn um Veränderung in einem Prozess zu erzeugen, bedarf es neuer (reflektierter) Informationen, neuer mutiger Perspektiven, neuer oder bisher ungehörter Stimmen, neuen Wissens, neuer methodischer Vorgehensweisen und neuer Haltungen. Identitätsmuster und Rituale beispielsweise werden interfamiliär und intergenerationell weitergegeben. Sie treten nicht unmittelbar als Handlungen und Handlungsfolgen in Erscheinung. Als konstruktive und nicht nur reproduktive kulturelle Leistung, sei es als kollektive Anstrengung, Investition oder Zumutung, muss Potentialentfaltung aktiv entwickelt und unterstützt werden. Die von gegeben-erlebte Welt (‚Deal with it!‘), die neu konstruierte und die final erwünschte Welt müssen in diesem Entwicklungsprozess immer wieder in Einklang gebracht werden. Deshalb stellen wir Fragen wie: Was ist wessen Wirklichkeit? Welche Prioritäten setzen wir, um kurz- und langfristige Ziele zu erreichen? Was sind unsere Bewertungskriterien? etc. etc.

Wir können schlussfolgern: Die Praxisschleifen des Pragmatismus informieren die mentalen Rückkopplungsschleifen des Konstruktivismus, weil die Folgen des Handelns nicht von ihrer Begründung und Begründbarkeit getrennt werden können. Wilfrid Sellars nannte dies den ‚Raum der Gründe‘ (‚Space of Reasons‘). Da aber Gründe und Begründungen der argumentativen Aushandlung bedürfen, ergibt sich folgerichtig die Notwendigkeit eines diskursiven bzw. dialogischen Vorgehens. Epistemologie ist demnach nicht nur durch die Bedeutungszuschreibung sozialer und historischer Erfahrungen bestimmt (quasi im ‚pragmatischen Raum‘), sondern zugleich in deren gewachsenen kulturellen Identitäten, autobiographisch situierten Verortungs- und Intentionalitätsmustern, mentalen Modellen und sozialen Einstellungen begründet (quasi im ‚konstruktivistischen Raum‘).

Eine pragmatische Perspektive auf einen konstruktivistischen Rahmen fragt: Welche Art von Konstruktion ist notwendig, um positive Ergebnisse zu erzielen? Eine konstruktivistische Perspektive auf einen pragmatischen Rahmen fragt dagegen: Was ist die soziale Rechtfertigung für die zugrunde liegenden Ziele, Methoden und ihre Konsequenzen?

Der einzige Ausweg, diese Dichotomie dialektisch aufzulösen, besteht darin, beide Perspektiven wechselseitig einzunehmen und so lange gegeneinander abzuwägen, bis wir in unserer Prozessentwicklung an einen Punkt gelangen, an dem konstruktivistische soziale Resonanz (Hartmut Rosa) und methodischer Pragmatismus in einem kreativen Flow zusammenkommen, d.h. beide Perspektiven sich nicht mehr behindern. Flow bedeutet in diesem Zusammenhang, dass konzeptionell-konstitutive und praktisch-intentionale Leitplanken gemeinsam gesetzt werden konnten, um die Beteiligten in ihrer Lösungsentwicklung kognitiv zu entlasten. Kommunikation in all ihren Dimensionen (Schulz von Thun) kann so ohne größere Barrieren und Aushandlungsprozesse fließen.

Vereinfacht lässt sich sagen, dass unsere Intention für erfolgreiche handlungsbezogene soziale Transformationen darin besteht, Begründungszusammenhänge und Konstitutionsprozesse integrieren zu können. Diese Kompetenz ist eine Metakompetenz, die den Entwicklungsprozess aus der Perspektive eines Coaches einnimmt. Sie ist eine Außenperspektive auf den Prozess. Die besondere Fähigkeit von Coaches und Learning Designer:innen ist es, die Perspektive der Coachees bzw. Lernenden empathisch einzunehmen, d.h. in eine Inside-Prozess-Perspektive zu wechseln. Unser Berufsfeld zeichnet sich durch die Metakompetenz aus, einen solchen mehrfachen Perspektivenwechsel (inside-process, outside-process) über den gesamten Entwicklungsprozess mit Coachees, Mitgestalter:innen und Lernenden aufrechterhalten zu können.

Das neue Spiel in der Kultur der Digitalität

Die Natur ist analog. Menschlicher Körper und Gehirn sind analog. Persönliche soziale Resonanz ist physisch. Bevor wir in die Tiefe gehen, ist es hilfreich, sich die Beziehung zwischen unserer Natur und der Technosphäre zu vergegenwärtigen. Jede Technologie, die wir als homo faber im Rahmen der instrumentellen Vernunft entwickeln, von den mesopotamischen Bewässerungssystemen bis zum maschinellen Lernen, hat eine soziale, ökonomische und politische Ermächtigung (die pragmatische Seite) um den Preis sozialer Entfremdung und Distanz zur Folge. D.h. eine kritische Technikfolgenabschätzung behält stets die Wünschbarkeit und Priorisierung gesellschaftlicher Ziele im Blick (die konstruktivistische Seite).

Die Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit und seinen Beziehungen zeigt sich im digitalen Leben in vielen Facetten. Die Umverteilung von physischer zu symbolischer Arbeit (Mitscherlich) bedeutet zunächst einen Zugewinn an Effizienz, aber um den Preis der Geisterhaftigkeit. Denn das Digitale ist nicht unmittelbar erfassbar, nicht greifbar und erscheint in Form binärer Ströme prinzipiell unabschließbar: Der Homo Faber wird zum digitalen Sisyphos. Projekte und Deadlines reihen sich nahtlos aneinander. Die permanente Informationsflut überfordert viele Menschen. Dabei geht es nicht, wie bei analoger Überlastung üblich, um temporäre Anstrengungen und anschließende Ruhephasen. Es geht um das Überschreiten einer Schwelle permanenter Dauerberieselung. Die Virtualität des Sozialen hat weitere paradoxe Konsequenzen: Trotz maximaler sozialer Vernetzung und technologischer Optionen fühlen sich besonders viele junge Menschen einsam und alleingelassen.

Obwohl die digitale Sphäre zunächst eine enorme Erweiterung der menschlichen Handlungsmöglichkeiten bedeutet, gibt es im Gleichgewicht pragmatischer und konstruktiv-konstitutiver Faktoren eine Goldilocks Zone (Su-Shu Huang), d.h. eine schmale, bewohnbare Zone, in der menschliche Entwicklung gefördert und nicht behindert oder zerstört wird. Die Technosphäre ist, wie wir erkennen, nicht unendlich skalierbar, weder auf Kosten ihrer ökologischen Basis noch entwicklungspsychologisch.

An dieser Stelle lohnt es sich, Empowerment und seine Implikationen genauer zu betrachten. Mit dem Empowerment des Menschen verbinden wir die Entwicklung von Autonomie. Doch wie autonom können wir in der digitalen Welt überhaupt sein?

Aspekte menschlichen Empowerments und ‚Human Agency‘ (Bandura)

Mit dem Aufkommen kommerzieller sozialer Netzwerke hat sich die analoge personale Autonomie auf einer neuen Ebene rekonfiguriert, in der die soziale Autonomie der Netzgemeinschaft als ständig zu überprüfender Garant für die Validierung personaler Autonomie fungiert. Gleichzeitig unterliegen beide, die soziale wie die personale Autonomie, die medial sichtbare wie die algorithmisch unsichtbare, den Spielregeln der zugrunde liegenden Netzwerke. Insofern stellen digitale Netzwerke eine unverzichtbare, lebensweltlich geteilte Ressource für die Konstitution personaler wie sozialer Autonomie dar.

Dies berührt auf der personalen Ebene die authentische Identität als Repräsentation personaler Autonomie. Die Grenzen zwischen dem analogen Selbst und dem digitalen Alter Ego in Netzwerken verschwimmen. Die Durchlässigkeit zwischen beiden beeinflusst die Kompetenz zur Selbstrationalisierung, d.h. die Art und Weise, wie Menschen in ihren Lebensentwürfen (im konstruktivistischen Raum) autobiographisch verortete Sinn- und Bedeutungsfindungen realisieren. In den Einträgen von sozialen Blogs vermischen sich typischerweise autobiographische, berufliche, wirtschaftliche und politische Motive.

Zugleich versorgen Netzwerke ihre Nutzer:innen mit sozial-kognitiv vermittelten, praktischen Handlungs- bzw. Lebensgestaltungsoptionen (als ‚practical agency‘, im pragmatischen Raum). Diese Zuordnung ist insofern problematisch, als den Teilnehmer:innen von sozialen Zielen entkoppelte Handlungsoptionen angeboten werden, so dass in der Folge die Nutzer:innen vom Abgleich moralischer und ethischer Perspektiven weitgehend entbunden werden.  Der Space of Reasons wird durch einen Space of Opportunities ersetzt. Dieser technologisch-epistemologische Shift kann zumindest teilweise die Erosion persönlicher und gesellschaftlicher Verantwortung als ‚Moral Disengagement‘ (Bandura) erklären: Der Ausstieg aus sozialer und politischer Verantwortung, die radikalisierende Aufkündigung sozialer Bindungen, ja des Gesellschaftsvertrages war noch nie so einfach wie im Internet. Dies beschreibt als Haltung und Fähigkeit die Dimensionen einer‚moral/ moral-executive agency‘ (Habermas).

Was bedeutet dies für uns als fachliche Herausforderung? Ein sinnvoller Ansatz ist die Suche nach isolierbaren Faktoren, die als Hebel mehrere Probleme gleichzeitig adressieren. Im Kern geht es um die Wiederherstellung bzw. Reparatur von Handlungsfreiheit und sozialer Resonanz, die sich, wenn sie nachhaltig entwickelt werden soll, auf einen Space of Reasons, einen persönlich-organisatorischen Begründungszusammenhang bezieht.

So macht es beispielsweise wenig Sinn, Teilnehmenden in repressiven oder zutiefst dysfunktionalen Organisationen ‘Resilienz’ zu predigen, ohne die zugrunde liegenden systemischen Mechanismen und Kommunikationsmuster zu beheben. Ebenso wäre es wenig erfolgversprechend, Teilnehmende zu begleiten, die sich persönlich engagieren, denen es aber an Verbindlichkeit, Vorbildlichkeit, sozialen Spielregeln und Zielen mangelt.

Daraus folgt, dass wir in sozialen Lernprozessen autobiographische Erfahrungshorizonte, persönliche Bedeutungszuschreibungen, Lebenssituationen, Mindsets und Autonomiestrukturen als konstruktivistische Gegebenheiten mit systemischer Gestaltungskompetenz verweben. Der Unterschied zum systemischen Coaching besteht darin, dass dem systemischen Gestalten der persönliche Zugang individualpsychologisch (Adler) vorgelagert ist: Um ins Haus zu kommen, braucht es eine Tür. Erst nach der Auflösung psychologischer Hindernisse und Hemmnisse erlangen wir organisationale Gestaltungsfreiheit, können wir unsere Innovationspotenziale voll entfalten.

Ziel ist es, die intrinsische Selbstorganisationsfähigkeit der Teilnehmenden zu entwickeln und zu stärken. Dies ist der lokale Gegenentwurf zu externen sozialen Netzwerken.  Die Entwicklung von Selbstorganisation adressiert mehrere Probleme gleichzeitig: Verantwortungsdiffusion, Motivationsmangel durch soziale Distanz, die Thematisierung persönlicher Blockaden, neue Sinnfindung, adäquateren fachlichen Austausch sowie die Wiedergewinnung von Handlungsfreiheit durch die Einladung in psychologisch-sichere Räume (Timothy Clark).

Voraussetzung für diese neue Herangehensweise ist die Bereitstellung entsprechender Ressourcen für innovative Lern- und Entwicklungsprogramme sowie das Vertrauen in eine zunehmend heterogene Mitarbeiterschaft, übergreifende L&D Programme in Co-Creation gestalten zu können. Die Schnittstelle zwischen Person und Organisation, unsere Lerndesign-Coaching-Schnittstelle, hat sich pluralistisch ausdifferenziert und lässt sich daher nur teilweise in traditioneller Weise als reine Rollenbeschreibung abbilden: Menschen möchten als Menschen wahrgenommen werden, nicht bloß als ‘human capital’.

Zum Stichwort Ressourcen: Carl Rogers ‚On Becoming A Person’ ist in der Kultur der Digitalität verwoben mit dem Zugang zu und der Abhängigkeit von sozialisierten technologischen Ressourcen. Soziale Akteure projizieren sich durch soziale Netwerk in die Welt. Das globale analoge Selbst und das digitale Alter Ego befinden sich in einem vielschichtigen Austausch von Möglichkeitsinterpretationen. Private und soziale Autonomie konstituieren sich in diesem Licht hochgradig permeabel.

Schlussfolgerung

Empathisch-organisationale Sozialgestaltung bedeutet, Menschen in ihren autobiographischen Entwicklungswegen und Lebenssituationen abzuholen, um sie in hochdynamische Organisationsstrukturen einzuladen und zu integrieren. Dabei wird die Schnittmenge zwischen individuellen Bedürfnissen und systemischen Erfordernissen ausgehandelt. Dies impliziert die Aufhebung der Entfremdung, die durch rein funktionale Rollenbeschreibungen und fremdbestimmte, extrinsische Pay-offs geschaffen wurde. Gleichzeitig spielt die digitalisierte Technosphäre eine ambivalente Rolle. Sie verbindet und entpersonalisiert zugleich und evoziert damit neue Kulturtechniken, eine neue ars vivendi.


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