It’s my life.

Unsere Lebenszeit ist unser kostbarstes Gut. Es gibt kein Top-Up, keinen zusätzlichen Download, und je älter wir werden, desto bewusster wird uns der Wert einer voll ausgeschöpften Lebenszeit. Wir verstehen auch, warum Menschen ohne Zukunftsperspektive verzweifeln, resignieren, destruktiv handeln und sich, gerade weil sie keine Zukunft und keinen Selbstwert empfinden, in wenig nachhaltige Allmachtsphantasien flüchten.

In Krieg, Elend, Vertreibung und Migration, in einer Zeit globalen Ökozids inmitten einer scheinbar gleichgültigen Welt werden Zukunftsperspektiven verhindert.

Ich habe mich gefragt, wie Zukunfsräume entstehen. Es ist auch ein sehr persönliches Thema, da ich seit meiner Rückkehr nach Deutschland viele Träume begraben musste und es sehr schwer ist, als selbstständige Unternehmerin und globalisierte Bildungsmigrantin eine Existenz aufzubauen. Gleichzeitig gehöre ich zur Gemeinschaft der Kämpfenden. Meine Perspektive ist insoweit existentiell. Zukunftsräume sind unser hausinternes Thema. Wir kämpfen um sie.

Wenn es lediglich um fehlendes Wissen ginge, würden wir in der besten aller möglichen Welten leben. Leider hat sich Leibniz geirrt. Wir haben großartige Technologien entwickelt, deren Heilspotenzial unerlässlich beweihräuchert wird, Rechenzentren, die vor Wissen und Wissensproduktion heißlaufen, Talkshows mit selbsternannten Welterklärern, und Populisten, die den Menschen autoritäre Mottenkisten der Vergangenheit andrehen wollen. Unsere Hochtechnologiekultur gleicht einem bemitleidenwerten Elefanten, der im Sumpf stecken geblieben ist. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs, und die neue Welt, die uns tragen könnte, ist beunruhigenderweise noch nicht genügend sichtbar.

Wie entstehen Zukunftsräume?

Ich muss zugeben, dass ich mich viele Jahre lang und zum Teil immer wieder geirrt habe. Eine Erklärung: Ich nahm etwas naiv an, dass sich mit der richtigen Methode, innovativen Modellen und einer Portion Mut im Prinzip alle Probleme dieser Welt lösen ließen: Hey, let’s make this place a better world! Das Versprechen einer prozeduralen, rationalen Lösung ist einfach zu verführerisch. Viele Technologien funktionieren tatsächlich großartig, denken wir nur an die Medizin, abzüglich der explodierenden Raketen von Elon Musk. Und es gibt nicht nur Schulen am Rande des Zusammenbruchs, sondern auch großartige fortschrittliche Bildungseinrichtungen überall auf der Welt. In allen Bereichen gibt es positive Beispiele, die Hoffnung machen. Und die Hoffenden sind den Tatsachen voraus.

Die Antwort auf die große philosophische Frage ‚Wie entstehen Zukunftsräume?‘ lässt sich somit eingrenzen. Wir müssen herausfinden, worin sich jene Organisationen unterscheiden, die Menschen eine Zukunftsperpektive bieten und jene, die darin versagen. Oder positiver, zielorientierter formuliert: Was hält Organisationen davon ab, für Menschen Zukunftsperspektiven zu entwickeln?

Darauf habe ich, besonders während meiner Gastberatung beim BDU und im Austausch mit Kolleg*innen, zwei Antworten gefunden. Die erste lautet: Menschen können sich und anderen im Weg stehen, sie können sich und anderen aber auch Wege öffnen und sie ermutigen, neue Wege zu gehen, ihre eigenen Pfade zu erkunden. Habe fortitudinem ire viam tuam – Habe Mut deinen eigenen Weg zu gehen.

Zukunftsräume als soziale Konstrukte

Das Problem von Führungskräften ist, dass sie sich als solche positionieren. Alles dreht sich um sie. Sie geben den Takt an und es mangelt nicht an raumfüllenden Egos. Leider verfügen nur die wenigsten Führungskräfte über die soziale Kompetenz, ihren Mitarbeitenden auf Augenhöhe zu begegnen, noch haben sie solides Vertrauen in die Selbstorganisationsfähigkeit ihrer Teams. Der größte Teil der Budgets für Learning in Development fließt in der Regel in das Coaching und Mentoring von Führungskräften. Mitarbeitende bekommen Schulungen zu Optimierung ihrer Work Performance aufs Auge gedrückt, plus die gelegentlichen Erste Hilfe und Feuerschutz Trainings.

Wir haben es mit Hierarchien zu tun, in denen Manager aufgrund ihrer Fachkompetenz aufsteigen, aber nicht wegen ihrer Sozialkompetenz. Als Vorbilder taugen wenige. Wer sich für das Scheitern großer Patriarchen, für den Rise and Fall interessiert, dem empfehle ich das Kapitel über die Unternehmenskultur bei Volkswagen von Amy Edmonson in ‚the fearless organization‘ (S. 55 ff.). Sie beschreibt detailliert die Männerseilschaften, angefangen bei Ferdinand Porsche, dem Großvater und Mentor von Ferdinand Piech, dessen Protegé wiederum Martin Winterkorn war. Vom triumphalen Aufstieg bis zu Dieselgate und verschlafenen Elektrowende zeichnet Edmonson minutiös nach, wie patriarchale Hierarchien zunehmend an dynamischen und globalisierten Märkten scheitern.

Damit ist die zweite Antwort bereits angedeutet: Es sind nicht nur einzelne Personen oder privilegierte Eliten, die Zukunftsperspektiven für andere Menschen verhindern, es ist gerade auch die Unternehmenskultur.

In Unternehmen, Verwaltungen und Organisationen, in denen Angst herrscht, ist die Zukunft der Mitarbeiter*innen kein Thema. Sie sind ‚human capital‘, nicht viel mehr, ohne eigene Stimme, von einer KI funktional nach ‚Best Fit‘ aussortiert. Spaßigerweise werden Bewerbungen ebenso zunehmend mit Hilfe von KI generiert – ein toller Zirkus, der hier entsteht.

Angst – Ein Wort, für das die Welt uns kennt

Haftungsangst in Verwaltungen, Leistungsdruck als Angst in Marketing & Sales, oder die Angst, wegautomatisiert zu werden (an dieser Stelle der gruselige Begriff des ‘Substitutionspotenzials’), die Angst vom Team nicht angenommen zu werden, oder die Angst des mittleren Managements dem Topmanagement neue Vorschläge zu unterbreiten, die den Status Quo in Frage stellen könnten – es gibt tausende von impliziten und expliziten Ängsten. By the way: ‘Angst’ ist neben ‘Schadenfreude’ eines der wenigen deutschen Wörter, für das wir international Bekanntheit erlangt haben.

Im Lichte der neuen Information, fragen wir noch einmal: Wie enstehen Zukunftsräume?

Zukunftsräume entstehen, wenn Menschen zusammenkommen. Wenn sie einander vertrauen können und wenn sie ihr (a) Bedürfnis nach psychologischer Sicherheit mit ihrer (b) Motivation, Wertschöpfung für das Unternehmen zu schaffen, in Einklang bringen können. Damit haben Zukunftsräume mindestens zwei Dimensionen: die psychologische Sicherheit auf der einen Seite sowie die darauf aufbauende soziale Konstruktion (bzw. eine zugrundeliegende organisationale Exzellenzerwartung) auf der anderen Seite. Zukunft entsteht als ein prosoziales Phänomen.

In dieser Konstruktion werden subjektive, intersubjektive und objektive Fäden wie in einem Webstuhl des Lebens miteinander verwoben. Was wir erkennen, sind die Umrisse eines neuen Modells, bei dem die kulturellen Grundlagen einer Organisation die soziale Kohäsion und Performanz ermöglicht. Dieses Bild des Webstuhls war die Inspiration für unsere Coachingangebote auf ‚Horizonte weben‘.

KI fordert uns als Kulturschaffende heraus

Wir leben im Zeitalter der schnellen und einfachen Antworten. Dieselben Menschen, die sich über simplifizierende Populisten und ihre einfach-gestrickten Weltbilder lustig machen, vertrauen kurioserweise den schnellen Antworten von KI-Modellen.

Wir haben weitreichende Entscheidungen zu treffen: bringen wir uns als Kulturschaffende mit der Unterstützung neuer Technologien ein, oder vertrauen wir völlig auf KI und machen wir uns damit als Kulturschaffende überflüssig? In dem Moment, in dem eine KI ‚menschlichere‘ Antworten auf die Frage findet ‚Wie bringe ich die Belegschaft von Home Office wieder zurück ins Büro?‘ als so mancher Manager, muss diese Frage gestellt werden – siehe https://chat.openai.com/share/20ceeef3-6700-4774-899f-103e7d684999 oder den großartigen GPT4-Chatverlauf zur Optimierung von Urlaubsanträgen von Martin Jahr https://www.linkedin.com/posts/martin-jahr-72559214b_a-post-of-kevin-tan-inspired-my-to-check-activity-7130156161609162752-6aDI?utm_source=share&utm_medium=member_desktop Er demonstriert am Beispiel wie organisationale Prozessoptimierung mit KI aussehen kann. Wäre eine Fachkraft im mittleren Management zu solchen Antworten fähig? Zugleich braucht es kluge Menschen, die verantwortlich mit maschinellem Lernen umgehen können.

Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Die intelligentesten Methoden, die teuersten Beratungsteams und die besten Absichten scheitern und verpuffen, wenn die zugrunde liegende Organisationskultur nicht in der Lage ist, anstehende Veränderungsprozesse zu unterstützen. Ein kurzfristiger Konsens reicht für eine nachhaltige Entwicklung nicht aus.

Noch sind wir es, die Fragen stellen, Ziele formulieren und Entscheidungen treffen. Noch.

Die nächste Generation der KI, die bereits in den Startlöchern steht (Q*, Gemini und einige andere), entwickelt sich vom ‚stochastischen Papagei‘ durch überwachtes Lernen (Supervised Learning) zum lernenden Zielerfüller. Sie arbeiten mit kleineren Datensätzen und können ihren Code eigenständig optimieren. Aber wessen Ziele sind das? In wessen Realität? Mit welchem Menschenbild? Und was hat das mit unserer Lebenszeit zu tun, unserem kostbarsten Gut?


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