Freiheitswesen und ihre Grenzen

Der bekannteste Ansatz zur Begründung der Menschenwürde stammt von Kant. Wir sind, wie ich einschränkend definieren würde, zumindest potentiell Vernunftwesen, die sich aus freien Stücken ihre eigenen Gesetze geben können. Diese wiederum sind nicht beliebig, sondern folgen den beiden grundlegenden Interpretationen des kategorischen Imperativs: (1) der widerspruchsfreien Verallgemeinerbarkeit wechselseitiger Ansprüche und (2) der Nicht-Instrumentalisierung, d.h. „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“.

Das ist eine ebenso einsichtige wie allgemeine Perspektive. Sie berührt jedoch nur am Rande die konkreten Situationen und Konflikte der Menschen, die sich aus ihren materiellen, kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen entwickeln. In dieser zweiten, Hegelschen Perspektive geht es um das Besondere, das Spezifische. Es geht um die Menschen als geschichtliches Subjekte in ihrer Existenz, ihrem Narrativ und ihrer Identität.

Nun können wir – das wäre ein naturalistischer Fehlschluss – aus einem Sein kein Sollen ableiten. Und doch ist uns, wenn es um die Würde des Menschen geht, zumindest intuitiv bewusst, dass die Menschenwürde existenziell in unserem So-Sein, unserem Anders-Sein und Werden begründet ist. Wie lässt sich diese Intuition mit der einsichtigen Kantischen Begründung in Einklang bringen? Menschen handeln in ihren gegebenen Kontexten schließlich nur bedingt rational und nur begrenzt als freie Vernunftwesen.

Wie können wir das Besondere mit dem Allgemeinen dialektisch verbinden?

Soziale freiheitsstiftende Rahmenbedingungen

Die Erweiterung des Kantischen Ansatzes besteht in der Erkenntnis, dass wir uns als Vernunftwesen nur durch materielle und kulturelle Rahmenbedingungen konstituieren können. Freiheit bedarf institutionalisierter, gesellschaftlich vereinbarter Rahmenbedingungen, um für die Subjekte wirksam zu werden. So bedarf es beispielsweise eines geteilten Rechtszustandes, um Menschen einklagbare Freiheiten zu garantieren. Dies wiederum ist nicht möglich, solange soziale Gruppen nicht wechselseitig ihre Existenzberechtigung anerkennen.

Die Begriffe der Eigengruppe (ingroup) im Gegensatz zu Fremdgruppen (outgroups) sind hier sehr hilfreich (‚us and them‘), da es in der dialektischen Zusammenführung von Allgemeinem und Besonderem um den Gesellschaftsvertrag zwischen beiden geht.

Besonders deutlich wird dies in kriegerischen und gewaltsamen Konflikten. Gewalt kann sich dauerhaft etablieren, indem Perspektiven einseitig, jenseits des Horizonts eines Gesellschaftsvertrags, aufgelöst werden. In diesem Fall zählt nur das Leiden der Ingroup oder der gewählten Präferenzgruppe. Wir sprechen von selektiver Empathie. Selektive Empathie beruht auf moralisch einseitiger Anteilnahme und geht nicht selten mit der Solidarisierung von Gewaltakteuren einher, die Gemeinschaft und Gemeinsamkeit bekämpfen, um einen Gesellschaftsvertrag zu verhindern.

Sozial- bzw. Gesellschaftsverträge funktionieren top-down ebenso wie bottom-up. Ein Dorf, das beschließt, eine Ingroup-Outgroup-Diversifizierung aufzuheben, hat nicht weniger friedensstiftende Wirkung als ein Vertrag zwischen hochrangigen offiziellen Vertretern. Stellen wir uns etwa einen israelisch-palästinensischen Kindergarten oder eine israelisch-palästinensische Universität vor.

Menschenwürde ist in der beschriebenen Konstellation sowohl ein unveräußerliches Gut (im Bereich des Allgemeinen) als auch ein Prozess (im Bereich des Besonderen, unserer Lebenserzählungen), indem wir Rahmenbedingungen schaffen, die soziale Isolation aufheben und uns mehr Freiheiten schenken.

Keine nachhaltige Identitätsentwicklung ohne Anerkennung des Anderen

Identitäre Politik läuft in dieser Hinsicht auf einen moralischen Relativismus hinaus, denn identitäre Gruppen lassen keine anderen Maßstäbe gelten außer ihren eigenen. Eigengruppen können ihren Bezug zu Fremdgruppen nicht unabhängig von deren Perspektiven konstituieren – es sei denn um den Preis des Verlustes eines gemeinsamen sozialen Rahmens. Tatsache ist aber, dass soziale Beziehungen zwischen Gruppen auch ohne deren Zustimmung bestehen.

Auf der autobiographischen Ebene geht es um die Vermittlung von Ratio, Realis und Potentialis, d.h. um die Umsetzung neuer Freiheiten unter reformierten Rahmenbedingungen zur Entfaltung menschlicher Potentiale. Ratio, so können wir schlussfolgern, beschränkt sich nicht nur auf den Kategorischen Imperativ, sondern umfasst gleichfalls das Vermögen Empathie für alle Menschen – und nicht nur selektiv – zu praktizieren.


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