Die Soziale Marktwirtschaft als Auslaufmodell

Das Modell der Sozialen Marktwirtschaft (Alfred Müller-Armack, Ludwig Erhard) beruht auf der Prämisse, dass sich die wirtschaftlich Starken mit den wirtschaftlich Schwachen und Benachteiligten solidarisieren. Damit basiert die Soziale Marktwirtschaft auf einem Gesellschaftsvertrag, der den sozialen Frieden in unserer Demokratie und unserem Rechtsstaat garantiert. Dieses Modell hat in den Nachkriegsjahrzehnten sehr gut funktioniert, da der Wiederaufbau vor allem eine Gemeinschaftsleistung war, getragen vom Versprechen des Wohlstands für alle. Der Wohlstand basierte auf der Grundannahme der Entwicklung von Gemeinwohl in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft.

Dieses Modell wird nun durch eine zunehmend hyperindividualisierte Gesellschaft in Frage gestellt, in der persönlicher Komfort und Eigengruppen-Privilegien an erster Stelle stehen.

Erfolgreiche Abkopplung von der Demokratie

Mit dem Aufkommen des Neoliberalismus wurde dieser Konsens aufgekündigt. Der Markt soll und kann alles regeln. Die Akkumulation von Wohlstand nach der Aufbauphase sollte durch ‚trickle-down economics‘ auch den sozial und ökonomisch benachteiligten Schichten zugutekommen. Die Solidarität mit benachteiligten Schichten kann insoweit ohne Nachteile für die eigene Gruppe aufgekündigt werden. Wozu soll man die eignen Kinder auf desintegrierende öffentliche Schulen schicken, wenn man sich Privateschulen und Eliteuniversitäten leisten kann? Wozu bracht man eine gesetzliche Krankenversicherung, wenn man die Vorteile einer Privatversicherung genießen darf?

Der Wind hat sich gedreht und konservative Politik verlautet: ‚Wer nichts leistet, ist faul und für faule Menschen wollen wir nicht mehr aufkommen.‘ Interessant in diesen Zusammenhang sind die Analysen von Thomas Piketty, insbesondere die Abkopplung des Börsenmarktes von der Realökonomie, die es nichtarbeitenden Reichen ermöglicht moralische Überlegenheit gegenüber nichtarbeitenden Armen zu demonstrieren, nach dem Motto ‚Schaut her, wir sind die Leistungsträger. Wir sind die wahren Opfer, denn wir zahlen mit unseren Beiträgen für die faulen Armen. Die Armen und Mittelständischen sind bloß neidisch auf unseren Reichtum. Wenn ihr uns nicht günstigste Konditionen bietet, setzen wir uns in unsere Privatjets und ziehen in die nächstbeste Steueroase.

Die große Frage: Wer finanziert den Staat?

Die Gegenfrage lautet: Was kosten uns Superreiche als Gesellschaft? Fakt ist – die wirtschaftlichen Eliten haben den Gesellschaftsvertrag längst aufgekündigt und die erodierende Mittelschicht fühlt sich zu Recht betrogen: (I) Erstens vom Bund, der dringend notwendige Investitionen in Infrastruktur und ökologische Wende zurückhält, sich vor substanziellen Investitionen in Zukunftstechnologien und Sprunginnovationen scheut, ebenso wie von den Ländern, die einem zerfallenden Bildungssystem tatenlos zusehen – alles Voraussetzungen für einen soliden Mittelstand. (II) Zweitens die beschriebene Steuerungerechtigkeit, insbesondere die Weigerung der Politik, Erbschafts- (hier vor allem Industrievermögen), Vermögens- und Kapitaltransaktionssteuern einzuführen. (III) Drittens das ungelöste Problem der Renten und Beamtenpensionen, die den größten Etat im Bundeshaushalt ausmachen: Das Lebensmodell Rente bzw. Pension wird unbezahlbar. Die Etats für Arbeitslosen- und Bürgergeld sind im Vergleich dazu verschwindend gering, werden aber überproportional emotionalisiert und aufgebauscht, um von den eigentlichen Problemen, wie der demographischen Entwicklung der deutschen Erwerbsbevölkerung in den kommenden Jahrzehnten, abzulenken.

Wohlstand als Ideologie

Die Ideologisierung der Idee des gemeinwohlorientierten Wohlstands vollzieht sich in zwei Schritten. Der erste Schritt ist die beschriebene Entsolidarisierung, die schleichende Aufkündigung des Gesellschaftsvertrages. Der zweite Schritt besteht in der Sicherung von Privilegien um jeden Preis.

Die ökologische Wende sei zu teuer. Veraltete Technologien wie Diesel oder Ölheizung sollen weiter genutzt werden. Russisches Erdgas soll rehabilitiert werden. Dazu gehört auch das Festhalten am liebgewonnenen SUV, am Billigfleisch oder das geschickte Umgehen des Lieferkettengesetzes. An die sozialen, ökologischen und politischen Kosten unseres Wohlstands wollen wir nicht erinnert werden.

Eyes wide shut.

Wer es wagt, der Gesellschaft Verzicht, Mäßigung oder Einschränkung vorzuschlagen, wird kriminalisiert. Die neue Definition des ideologisierten Wohlstands lautet wie folgt: ‚Die Bewahrung des erarbeiteten Wohlstands hat oberste Priorität. Die Verteidigung von Privilegien darf die Demokratie kosten, auf die wir in einer Plutokratie ohnehin nicht mehr angewiesen sind. Demokratie ist heute für Wohlhabende und Superreiche wohlstandsgefährdend, weil sie die Partizipation der ärmeren Schichten bedeutet.‘

Wie bei allen Ideologien ist die Leistung einer enormen Realitätsverleugnung nötig. Dass dies in den sozialen Medien hervorragend funktioniert, beweist die Zustimmung von rund 20 Prozent aller Deutschen zu einer rechtspopulistischen Partei, die vom klassischen Nationalstaat, der Diskriminierung anderer Kulturen, der Ausgrenzung und sogar Vernichtung von Minderheiten und einer ‚Germany First‘-Politik träumt. Nationalstaatsbasierte Oligarchien und Plutokratien erscheinen am Horizont als salonfähige Alternativen zu einer partiziativen Demokratie: Was in den USA bereits passiert ist, könnte uns demnächst genauso blühen. Die Digitaldiktatur in China hat Wohlstand als Ideologie auf die Spitze getrieben. Im Austausch gegen das staatliche Wohlstandsversprechen veräußert die Bevölkerung dort ihre Bürger- und Menschenrechte, die unter einem Sozialkredit-System subsumiert werden.

Wenn wir über Wohlstand sprechen, müssen wir uns daher klarmachen, welche Interpretation von Wohlstand den jeweiligen Diskursen zugrunde liegt, welche Interpretation wir uns zu eigen machen.

Picture credit: Tim Meyer


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