Alle Lernformen und -formate, die Menschen entwickeln und praktizieren, sind aus ihren sozialen und kulturell-historischen Kontexten heraus entstanden. In den meisten traditionellen Gesellschaften ist es eine deontologische Bindung, die Menschen kollektiv zu entsprechenden Lernhandlungen motiviert: Es sind der König, das Vaterland, die Großfamilie oder die Gebote Gottes, die als normativer Kitt fungieren, d.h. du sollst, du darfst oder du solltest.

Kants kategorischer Imperativ war in doppelter Hinsicht der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Denn zum einen steht plötzlich die Vernunft über der Tradition, zum anderen knüpft Kant in Form einer Sollensethik händereichend an die deontologische Tradition an. Der Mensch soll sich von nun an selbst verpflichten können, um autonom zu handeln.

Lernen erfolgt nicht mehr ausschließlich durch soziales Kopieren und Instruktion, sondern durch rationale Planung im Sinne von Maximen, von denen wir wollen, dass sie allgemeines Gesetz werden. Kurz: Wir planen wünschenswerte Zukünfte und befreien uns von einem rein bedarfsorientierten Lernen im Hier und Jetzt, das nur reaktiv und nicht vorausschauend auf Umweltveränderungen reagiert. Problembasiertes Lernen (PBL) und Design Thinking stehen in dieser Tradition.

Mit dem Übergang von traditionalen Gesellschaften zu modernen Wissens- und Leistungsgesellschaften bricht jedoch der deontologische Kern Kants zusammen: Systeme orientieren sich nicht mehr an einer für alle wünschenswerten Zukunft, sondern nur noch an den partikularen Zukunftsinteressen ihrer Stakeholder. Multinationalen Konzernen ist es herzlich egal, ob sie unseren Planeten vor die Wand fahren, solange sich noch gutes Geld verdienen lässt.

Das individuelle Pendant zur systemischen Verantwortungslosigkeit (im Sinne der Unfähigkeit, auf bedrohliche Zukünfte zu antworten), ist die Selbstoptimierung. Die Selbstausbeutung ist wesentlich effektiver als die Motivation durch traditionelle Werte, da sie wesentlich ressourcenschonender ist. Die freiwillige Selbstversklavung als Konsument, der seine Freiheit bereitwillig gegen ein materiell-hedonistisches Wohlstandsversprechen eintauscht, ist das Stereotyp unserer Zeit.

Vom historisch-sozialen Klebstoff ist kaum noch etwas übrig. Er ist aufgebraucht. Was können wir tun? Eine Regression in autoritär-patriarchale Gesellschaftskorsette ist ebenso wenig eine Option wie ein ‚Weiter so‘ in der stillen Hoffnung, eine technologische Gottheit werde uns aus der Einsamkeit, Verlassenheit und kollektiven Handlungsunfähigkeit erlösen, auf der moderne Industriegesellschaften beruhen. Auch hier spiegeln unsere Lernformen den Zustand der Gesellschaft wider: En vogue ist gegenwärtig das individuelle, auf Selbstoptimierung zielende, vorproduzierte E-Learning in Kombination mit finanziell üppig ausgestatteten Führungskräftetrainings.

Hierarchische Systeme und atomisierte Individuen verhalten sich komplementär. Unsere Systeme sind für ihren Modus Operandi, ihr Geschäftsmodell, genau auf jene Hyperindividualisierung angewiesen, die ihre soziale Kohärenz untergräbt. Das ist das Paradox des Spätkapitalismus in einer zunehmend multipolaren Welt, deren Heterogenität die soziale Desintegration auf Gruppenebene beschleunigt, Stichwort kulturelle Identitätszentrierung.

Wo und wie finden wir aber einen neuen sozialen Klebstoff, der unsere Welt zusammenhält?

Ich weiß es nicht. Wir arbeiten derzeit bei NEXTGEN.LX an Ansätzen, in denen Menschen ein ‚neues Wir‘ entwickeln können. Dieses ‚neue Wir‘ ist, anders als bei Kant, auf der sozialen und politischen Ebene angesiedelt. Wir knüpfen an Dewey, Badura, Vygotsky, Ryan & Deci, Carol Ryff und viele andere mehr an, die die conditio humana (Hanna Arendt) nicht mehr unabhängig von ihren Rahmenbedingungen verstehen.

Um zu solch einem neuen, zukunftsorientierten Paradigma zu gelangen, brauchen wir beides – zum einen eine technologische Basis, auf der Menschen in eine global-kollegiale Co-Creation, d.h. in die gemeinsame Entwicklung sozialer Räume kommen, und zum anderen müssen wir Methoden entwickeln, die eine inklusive und angstfreie Selbstorganisation ermöglichen. Wir benötigen neue Kulturwerkzeuge, Kreativität und ganz viel Empathie. Ohne Empathie geht gar nichts.

Ich wünschte, wir hätten schon vor Jahrzehnten begonnen. Eine wissenschaftliche Begleitforschung ist in diesem Projekt unabdingbar, um das ‚neue Wir‘, die neuen Weisen sozialer Resonanz (Hartmut Rosa) in ihrer Tiefe verstehen, nachvollziehen und replizieren zu können. Wir können es uns nicht leisten, dass die Welt weiter auseinanderdriftet.


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