Kants Ideal des aufgeklärten Denkers, der die Welt aus eigener Vernunft zu ordnen vermag, kommt in seinem berühmten Zitat wunderbar zum Ausdruck: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.”

Zwischen Mord und Lüge

Bei aller Brillanz seines Denkens hat mich immer sein berühmtes Beispiel in ‚Über ein vermeintliches Recht aus Menschenliebe zu lügen‘ gestört, in dem er aus dem kategorischen Imperativ ableitet, dass es immer eine unbedingte Pflicht ist, die Wahrheit zu sagen. Demnach darf es keine Notlügen geben.

In Kants Beispiel eines von einem Mörder verfolgten Freundes, der sich in unser Haus geflüchtet hat, kommt Kant in einer sehr merkwürdigen Argumentation zu dem Schluss, dass es ein Verbrechen wäre, einen Mörder zu belügen (etwa: „Nein, ich habe niemanden gesehen“). Für Kant ist es zwingend moralisch gegeben, dem Mörder die Wahrheit zu sagen und damit unseren Freund zu verpfeifen.

Der bestirnte Himmel hat einen Systemcrash erlebt. Ich bringe – ganz im Sinne Kants und zu seiner Unterstützung – ein neues Argument ins Spiel und setze dabei beim kategorischen Imperativ an: „Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde! “

Das soziale Handeln ins Blickfeld geholt

Der Begriff des Handelns, so argumentiere ich, ist in der sozialen Fähigkeit des Menschen begründet. Wir sind nur deshalb handlungsfähige Subjekte, weil wir in einer Gemeinschaft das Handeln in all seinen Fakultäten erlernen. In Kants Beispiel geht es um soziales Handeln, und so könnten wir aus dem kategorischen Imperativ ableiten: „Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie zur allgemeinen gesellschaftlichen Norm werde! “ Es ist, Kantisch gesprochen, unsere Pflicht als historisch-kulturell verankertes Gesellschaftswesen (!), unsere Bestimmung als Freiheitswesen zu fördern und nicht zu kompromittieren.

Schon dreht sich die Denkbewegung: Denn in der sittlichen Sozialität liegt es begründet, Menschen als Freiheitswesen zu fördern und zu schützen. Und nein, wir wünschen uns keine Gesellschaft, in der Mörder triumphieren.

Das Geistige, das Materielle und die gelebte Freiheit

Hier offenbart sich eine weitere Schwäche des Kantischen Ansatzes: Kant zieht das Geistige, das Allgemeine dem Materiellen, dem Besonderen vor. Er sieht nicht, dass Geschichtlichkeit (Hegel an dieser Stelle) und Vernunft einander dialektisch bedingen. Zunächst das Offensichtliche: Unsere Kultur, unsere autobiographische Erzählung, unsere materiellen und kulturellen Gegebenheiten sind einmalig und unwiederholbar.  Wir sind nur einmal Kind, wir erleben nur einmal die Jugend und jede unserer Lebensphasen. Das Leben ist einmalig. Dem gegenüber steht der Anspruch der Wissenschaft wie der Vernunft auf Allgemeingültigkeit und Reproduzierbarkeit.

In diesem Spannungsfeld entwickelt sich stets eine materielle Basis für die Bedingung der Möglichkeit gelebter Freiheit, z.B. ein intakter Körper, Erziehungs. und Bildungseinrichtungen, ein empathischer und lebensbejahender Freundeskreis, rechtsstaatliche Institutionen, das Leben in einem intakten Ökosystem usw. usf.

Freiheit und Gesellschaft

Es macht wenig Sinn den Menschen als Freiheitswesen zu konstatieren, wenn er weder auf die materiellen Bedingungen der Konstitution von Freiheit als Ressource zurückgreifen kann, noch real erfahrene Freiheit in der Welt einzulösen vermag. What, frankly, would be the point? Was wären wir ohne Vernunftanspruch, damit verbundene Lebensfreude und Menschenliebe? Es geht, ganz im Sinne Kants ja darum, dass sich vernünftiges Handeln als Gegenstand möglicher Erfahrung empirisch beweist.

Wenn wir schon dabei sind, denken wir den sozialen Ansatz gern noch ein Stück weiter: Eine Gesellschaft sollte stets nach der Maxime handeln, die Freiheitsmöglichkeiten ihrer Mitglieder, als Freie unter Freien, zu maximieren. Es ist moralisch gegeben, die Lebensoptionen für andere Menschen zu sichern und zu erweitern. Es ist moralisch verwerflich, Menschen diese Optionen zu verweigern oder gar zu zerstören. Dies ist zugleich eine philosophisch-begründete Absage an jede Form von Autoritarismus. Als Freiheitswesen sind wir Zukunftswesen. Das handelnde Subjekt ist stets zukunftsbezogen. Heute sprechen wir von communities of practice. Der kantische Imperativ der Selbstgesetzgebung findet sein Pendant im Bereich des sozialen Handelns im Rechtsanspruch der freien gemeinschaftlichen Selbstorganisation.

Insofern der Begriff der Freiheit auch die freie Wahl zwischen mehreren Optionen impliziert, müssen wir von Zukünften im Plural sprechen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du erwarten kannst, dass sie einer freien Gesellschaft neue Zukunftsmöglichkeiten eröffnet! “


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